Lebensart

Augenblick

Was ist Glück? Für mich die Vorstellung der Ausdehnung, Verlängerung, vielleicht ins Unendliche, eines Augenblicks der Ruhe und Entspannung, des Anhaltens der Zeit, die Aufhebung ihres ständigen Vergehens. Mahler evoziert diese Erfahrung auf wundervolle Weise im Rondo-Burleske überschriebenen dritten Satz seiner neunten Sinfonie, in welchem das lärmend geschäftige Treiben und Durcheinander von Floskeln und Fragmenten, das in seinen lebhaften Teilen hektisch rast und stolpert, zweimal durch sehr langsame Teile aufgehalten wird, die wie Enklaven oder Epiphanien wirken, in denen eine andere Welt aufscheint. (Ein Vorfall während einer Aufführung dieser Sinfonie in New York im Januar 2012 legt nahe, dass unsere heutige Zeit möglicherweise sehr gut in den burlesken Teilen des Rondos dargestellt wird: Der Dirigent unterbrach die Aufführung wegen eines Erinnerungstons eines Mobiltelefons, den dessen Besitzer anscheinend nicht abzuschalten wusste. Die missbilligenden Äußerungen, die aus dem Publikum an den Störer gerichtet wurden, sind einerseits nachvollziehbar, andererseits taten sie, wie nicht zuletzt auch die Entschuldigung des Dirigenten für die Unterbrechung, es dem ungewollten Polterer nur nach.)

Ich bin sicher, dass die Erfahrung der Aufhebung von Zeit unter sehr einfachen Umständen möglich ist. Es bedarf nur einer augenblicklichen Disposition, der inneren Bereitschaft, um die Gelegenheit, sozusagen die Öffnung in die Aufhebung zu erkennen, und sich ihr hinzugeben. Es liegt in der Natur eines solchen Augenblickes, dass er nicht erzwungen oder hergestellt werden kann. Ich erinnere mich an Minuten, die sich wie eine halbe Ewigkeit anfühlten, am Rande eines Dorfes irgendwo im Mittelmeerraum, in der ich auf einer Steinmauer ausgestreckt lag, im Schatten eines Baums während eines heißen Mittages, in den Ohren ein plätschernder Bach, eine geliebte Person in meiner Nähe. Obgleich es sich nur um einen Zwischenstopp handelte und ich wusste, dass wir den Aufenthalt bald beenden mussten, um ein Hotel zu suchen, fühlte ich mich vollkommen glücklich und wunschlos an dem Ort, an dem ich mich befand.

5. Dezember 2013 von Kai Yves Linden
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