Computer-Musik

Kopist oder Komponist

Seit Version 1-und-etwas, das sind zwanzig Jahre, bin ich Anwender des Notensatzprogramms Finale. Immer wieder habe ich mich gefragt, ob das Komponieren mit Bleistift nicht doch produktiver ist. Was Reinschriften angeht, genügt es, sich an klecksige Wasserbäder von eingetrockneten Tuschestiften zu erinnern und das vorsichtige Abkratzen von Fehlern mit einer scharfen Klinge, um nostalgische Gefühle zu vertreiben. Ein Computer ist keine Schreibmaschine, sondern eine programmierbare Maschine mit Schnittstellen. Bei der Formalisierung der Probleme beim Notensatz – der satztechnisch um ein Vielfaches komplexer ist als Textsatz, insbesondere bei neuerer Musik – gab und gibt es viele verschiedene Ansätze. Zunehmend ist jedoch der Unterschied zwischen Notensatzprogrammen, welche eher die Arbeit eines Kopisten, und solchen, welche die eines Komponisten unterstützen sollen, geringer geworden. Die gut lesbaren Urtextausgeben des Henle-Verlages etwa werden seit einigen Jahren mit Finale gesetzt, das neben dem Konkurrenzprodukt Sibelius das bevorzugte Notensatzprogramm von Komponisten ist.

Finale war eines der ersten Programme, bei dem die Partitur in der grafischen Benutzeroberfläche eingegeben und nach Belieben geändert wird – im Unterschied zu anderen Programmen, in denen zunächst Beschreibungen der Partitur als Quelltext eingegeben und erst in einem zweiten Schritt grafisch gerendert werden. Allerdings war das Programm modal aufgebaut, mit eigenen Ebenen zur Eingabe und Bearbeitung von Noten, dynamischen Angaben, Artikulationszeichen, Text usw. Selbst einfache Elemente wie etwa dynamische Angaben konnten nur durch Hinundzurückklicken durch eine Kaskade von verschachtelten Dialogfenstern eingefügt werden. Version für Version wurden für typische Editiervorgänge Abkürzungen eingeführt, wodurch die Benutzerführung allerdings auch verworrener und kontraintuitiver wurde. Neue Versionen brachten häufig neue Funktionen, für die ich keine Verwendung hatte, und marginale, aber keine grundlegenden Verbesserungen der Benutzeroberfläche. Zwar ist die aktuelle Version (Finale 2011) weit aufgeräumter als Vorgängerversionen und das Wechseln zwischen verschiedenen Editierebenen abgemildert, aber es ist grundsätzlich immer noch erforderlich.

In dieser Hinsicht ist Sibelius eleganter. Angeklickte Elemente, seien es Noten, Zusatzzeichen oder Text sind größtenteils unmittelbar editierbar. Es gibt nur den grundsätzlichen Unterschied zwischen Noteneingabe und Editiermodus, sowie einige Eigenschaften, die nicht unmittelbar in der Partitur geändert werden können. Folglich frage ich mich ab und zu, ob ich auf Sibelius umsteigen soll. Das Programm wurde 1993 unter dem Namen Sibelius 7 für eine Außenseiterplattform entwickelt und 1998/99 auf die verbreiterteren Systeme Windows und Mac portiert. Die aktuelle Version 6 hat gegenüber Finale bei exotischeren Spezialformen aufgeholt, die besonders für moderne Komponisten von Bedeutung sind, und macht überdies einen außerordentlich performanten und stabilen Eindruck. Die Interoperabilität zwischen den beiden Programmen wird durch die Unterstützung des offenen Formats MusicXML hergestellt. Es ist also möglich, beide Programme nebeneinander einzusetzen.

Fast noch eleganter als Sibelius fühlt sich das freie und quelloffene MuseScore an. Die Druckqualität kann neben Erzeugnissen, die mit einem der großen kommerziellen Produkten hergestellt wurden, durchaus bestehen. Ein großer Nachteil dieses Programms ist allerdings, dass nur ganze Takte gelöscht werden können. Dadurch eignet es sich eher für Kopisten als für Komponisten, die häufig auch an einzelnen Elemente immer wieder feilen.

Die Sinnlichkeit des Schreibens mit der Hand ist verloren; das Schreiben am Computer hat wenig eigene; auf die zugewonnene Produktivität aber wird kaum ein Kopist oder Komponist verzichten wollen, und letztere auch nicht auf die Unterstützung kreativer Verfahrensweisen. Diese führen nicht von selbst zu einem überzeugenden Ergebnis. Von Morton Feldman meine ich einmal die Bekundung gelesen zu haben (ohne momentan die Stelle belegen zu können), dass er ohne Skizzen arbeite, weil er nur das auf Papier bringen wolle, was er auch hören wolle.

22. Juni 2011 von Kai Yves Linden
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