Kunst

Scherben

Coeur Nicht nur für Liebhaber künstlerischer Keramik, auch für Kunstinteressierte wäre es ein Versäumnis, etwa auf einer Fahrt zwischen Sancerre und Bourges (oder gelegentlich Degustationen bei Winzern der Appellation Menetou-Salon), nicht einen Abstecher zum Weiler La Borne (im Kanton Henrichemont) zu machen. (Der Titel des Artikels übrigens meint den Scherben, fr. tesson, wie in der Töpferei gebrannter Ton als Werkstück genannt wird.) In La Borne und Umgebung leben heute etwa achtzig Keramikerinnen und Keramiker, französischer und ausländischer Herkunft, die auf die Tradition des Ortes Bezug nehmen, und sich gegenseitig unterstützen und beeinflussen. In der Gegend kommt Ton in einem Mineralgemisch vor, das sich für die Herstellung von Tongut hervorragend eignet. Viele Jahrhunderte lang wurde in den Brennöfen von La Borne Steingut hergestellt und im weiteren Umkreis verkauft, der Ruf einiger Werkstätten reichte über mehrere Generationen hinweg weit über die Grenzen der Region hinaus, bis die zunehmende Konkurrenz der industriellen Produktion von Geschirr und Gefäßen im vergangenen Jahrhundert die kleinen Betriebe wie der der Familie Talbot, die sich vom Ende des 18. Jahrhunderts bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts einen Namen gemacht hatte, nach und nach zur Aufgabe zwang. Nach Jahrzehnten des Niedergangs siedelten sich in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts kunsthandwerklich und künstlerisch ausgerichtete Keramiker an. Fotos aus der Anfangszeit der Erneuerung strahlen die Aufbruchsstimmung jenes Jahrzehnts aus, in welchem junge Menschen alternative Lebensentwürfe erprobten.

Im April 2010 wurde eine Halle für Präsentationen keramischer Arbeiten in Form einer langgezogenen gläsernen Galerie eröffnet, die vom deutschen Architekten Achim von Meier entworfen wurde und durch ein klares Raumkonzept besticht, die Austellungshalle des Centre céramique contemporaine La Borne. Das Zentrum stellt auch Kontaktinformationen zur Verfügung, um Besuche in Künstlerateliers zu verabreden. Die zeitgenössischen Arbeiten zeigen eine große Vielfalt. Vase und Schale sind häufig nur Ausgangspunkt für freie skulpturale Formen. Wie bei aller Kunst in unserer Zeit, in der Originalität im ursprünglichen Sinn unmöglich geworden ist, besteht die Originalität in der Neubewertung des Wiederaufgenommenen, in der Eigenständigkeit der Bezugnahme.

(Das Foto zeigt eine Vasenplastik von Isabelle Cœur in einer Atelierausstellung.)

17. August 2011 von Kai Yves Linden
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