Musik

Spiele

Heutzutage ist ein Klavier kein selbstverständliches Möbelstück eines bürgerlichen Haushaltes mehr. Von einer Stadtplage „Clavierseuche”, wie sie der Musikkritiker Eduard Hanslick in der Mitte des 19. Jahrhunderts sah, ist folglich schon länger keine Rede mehr. Musik kommt heute vielmehr meistens aus der Konserve, und dies bei weitem allgegenwärtiger als es das Geklimper gut erzogener Mädchen je sein konnte, zuhause, im Auto, beim Einkauf, beim Haarschnitt. Mochte es auch nicht erhebend sein, Tonleitern und Holpern mithören zu müssen, ist das Verschwinden des Klaviers doch schade – einfach, weil es kaum einen besseren Weg gibt, Verständnis für Musik zu erlangen, als sie selber zu spielen – soweit nicht nur die Hände spielen…

Anspruchsvollere Stücke beanspruchen, schon weil sie meistens über einige Seiten gehen, mehr Zeit. Deshalb mögen Klavierdilettanten wie ich Bachs Wohltemperirtes Clavier und Charakterstücke wie etwa Mendelssohns Lieder ohne Worte oder Brahms‘ späte Klavierstücke, also Stücke, bei denen selten umgeblättert werden muss. Vor ein paar Tagen nun habe ich mir Heft V der Spiele (Játékok /ˈjaːte‧kok/ im ungarischen Original) von György Kurtág /ˈɟørɟ ˈkurtaːɡ/ angeschafft. Wer sich als Gelegenheitspianist an modernere Literatur wagt, wird viel Freude an Heften dieser Sammlung finden. Die Hefte VI und VII werde ich mir auf jeden Fall auch noch zulegen.

1926 geboren, ist Kurtág der bekannteste lebende Komponist Ungarns, aber immernoch ein Geheimtipp. Játékok ist eine Sammlung „in progress”, die 1973 begonnen wurde und inzwischen acht Hefte umfasst, zwei davon (IV und VIII) für Klavier zu vier Händen. Das letzte Heft erschien 2010. Während die Anregung für die ersten Hefte von der unvoreingenommenen, spielerischen Annäherung von Kindern an das Instrument ausging, für deren Verwendung sie auch gedacht waren, hat sich die Sammlung in den neueren Heften einer Art Tagebuch angenähert. Ab Heft V lautet der Untertitel Tagebucheinträge, persönliche Botschaften. Was das technische Niveau angeht, wechseln sich sehr leichte mit eher leichten, mittelschwierigen und schwierigeren Stücken ab, von denen einige wegen ihrer virtuosen Dichte der Ereignisse etwas Übung verlangen. Die Denkschritte in den kurzen, manchmal sehr kurzen Stücken mit ihren sparsam, aber durchaus mit Klangfreude eingesetzten Mitteln nachzuvollziehen ist nicht für einen Komponisten interessant, und die Klarheit der Diktion ermöglicht es auch einem Laien, die Bewegung im Tonraum, das Spiel von Wiederholung und Veränderung zu verstehen. Die Eheleute Márta /ˈmaːrtɒ/ und György Kurtág haben Stücke aus der Sammlung häufig bei Konzertauftritten vorgetragen und auch auf CD eingespielt. Die erste Einspielung einer Auswahl erschien 1997 beim Münchener Label ECM (Edition of Contemporary Music).

30. September 2011 von Kai Yves Linden
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