Literatur

Niemandsland

Letztens wollte ich mal wieder einmal etwas von Handke lesen, und kam auf das Jahr in der Niemandsbucht, vom autobiografischen Hintergrund dieses Buches wissend. Ich war neugierig, etwas über Handkes Beweggründe für den Rückzug in eine Gegend zu erfahren, die sich irgendwo am Rand der Großstadt Paris befindet, das geschäftige Treiben in Blickweite, einen Apfelbaum im Garten. Ein wenig wurde meine Neugierde auch von einer vagen persönlichen Verbindung angeregt, denn Verwandte von mir leben ganz in der Nähe des Ortes, an den er gezogen war, bevor er sich für das westliche Ende der Kette von Waldstücken im Südwesten der Großstadt entschied, die zwischen jener Vorstadt und seinem langjährigen und noch gegenwärtigen Wohnort liegt.

Handkes Buch[1], mehr ein Gedankenstrom, der mäandernd auch Handlungsbruchstücke mit sich zieht, als ein Roman, erinnert mich an das selbstvergessene Spiel eines Kindes, das in kleinen Dingen, die die Erwachsenen nicht mehr bemerken, Welten entdeckt. Handkes Ich-Erzähler erlebt in der Vorstadt und ihrer Umgebung, die er zu Fuß erwandert, im Alltag des einfachen Lebens, traumwandelnd und zugleich hellwach, Augenblicke, in denen ein Neuanfang, ein neuer Anfang möglich zu werden scheint, in denen die Möglichkeit eines wahren, einfachen Lebens aufscheint. Es ist eine Art von Reise, wie die von weitem miterlebten Reisen seiner Freunde, die er am Ende des Buches wiedersehen wird, eine Reise auch zu sich selbst, zur ganz eigenen Wahrnehmung der Welt.

Durch ein Zitat in einem Essay von Bernard Aspe über den Film The Tree of Life von Terrence Malick bin ich wieder auf das Buch gekommen.[2] In Aspes philosophischer Betrachtung geht es um den Ursprung der Dinge – in meinen Worten zusammengefasst: Was uns mit Dingen verbindet, ist eine Gnade, die uns in einem Augenblick der Wahrheit zuteil wird, dem Augenblick der ersten Begegnung, der eine im Sinne von Unmittelbarkeit wahre Beziehung herstellt. Der Gnade wird widersprochen, wir verlieren die Beziehung. Ein Synonym für die Sehnsucht, den Augenblick der Gnade wieder zu erleben, das Versprechen des Anfangs, ist die „neue Welt”, „Amerika”. In Malicks vorigem Film, The New World, geht es um eine Berührung zwischen englischen Siedlern und amerikanischen Ureinwohnern, die zum Aufeinanderprallen verschiedener Kulturen wird. Aspe sieht in The New World nicht nur den Titel eines Films von Malick, sondern „das Wirkliche, das sein Kino einzukreisen” versuche – im Sinne eines Zitats aus dem einleitenden ersten Teil von Handkes „Märchen”:

Die Erde ist längst entdeckt. Aber immer noch werde ich dessen inne, was ich für mich „Die Neue Welt” nenne. Es ist das herrlichste Erlebnis, das ich mir vorstellen kann. Gewöhnlich ereignet es sich nur für den Funken eines Augenblicks und flimmert dann vielleicht eine Zeitlang nach. Ich habe dabei keine Gesichter und keine Erscheinung. (In mir ist ein Misstrauen gegen all die ohne Not Erleuchteten.) Es ist das Alltägliche, das ich als die neue Welt sehe. Es bleibt, was es war, strahlt nur von Ruhe, eine Schneise oder Startbahn zwischen der alten Welt, wo es frisch anfängt.

1. Peter Handke: Mein Jahr in der Niemandsbucht: Ein Märchen aus den neuen Zeiten (Suhrkamp Verlag, 1994).
2. Bernard Aspe: De l’origine radicale des choses; in: Cahiers du Cinéma, No. 673, Décembre 2011.

1. April 2012 von Kai Yves Linden
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