Dies und das
Der automatisierte Mensch
Auf meinem Weg von der Arbeitsstätte nachhause komme ich über eine große Kreuzung. Letztens wurde ich hier Zeuge einer merkwürdigen Szene an einem Fußgänger- und Fahrradübergang. Anders als in anderen Städten haben die Fußgängerampeln in Düsseldorf eine gelbe Phase. Ein leichtsinniger Radfahrer befuhr den Übergang, als die Ampel bereits von Grün auf Gelb wechselte. Als er etwa die beiden ersten von fünf Kraftfahrzeugspuren hinter sich hatte, sprang die Ampel für die vor dem Übergang wartenden Autofahrer auf Grün um, die daraufhin unverzüglich auf drei Spuren losfuhren. Da auch die Gegenrichtung den Übergang nach wenigen Sekunden erreicht hatte und anscheinend keine Rücksicht auf die Ausnahmesituation zu nehmen bereit war, rettete sich der Radfahrer, der sich noch mitten auf dem Übergang befand, indem er den Lenker umwarf, um sich in den Strom der Autofahrer einzugliedern.
Es ist ein möglicherweise nur scheinbares Paradoxon, dass der die Städte beherrschende Autoverkehr einerseits ohne zivilisationsbedingte Regulierung kaum existieren würde, andererseits aber wenig zivilisiertes Verhalten zu fördern scheint. Das Verhältnis zwischen dem Umfang von Regulierung und dem an gegenseitiger Rücksicht scheint ein umgekehrtes zu sein. Die offenbar reflexartige Reaktion auf das freigebende Signal an dieser Ampel hatte etwas grotesk Automatenhaftiges. Während für den Betrieb automatisch geführter Fahrsysteme die Berücksichtigung der Sicherheit anderer Verkehrsteilnehmer selbstverständlich ist, scheint sich das Verhalten von Menschen, die ein Fahrzeug führen, mitunter dem von Spielzeug anzunähern, das auf einen Knopfdruck hin losschnurrt oder einen Ton von sich gibt.
Künstliche Intelligenz ist der Hype der Zeit. Digitalisierung, Automatisierung, Robotik, die Vernetzung der Dinge sind in aller Munde. Experten sagen voraus, dass Roboter schon in zwanzig, dreißig Jahren weite Teile ganzer Wirtschaftszweige übernehmen könnten. Schon heute gibt es Menschen, die einen Teil ihrer täglichen Einkäufe über die Sprachschnittstelle eines rechnergesteuerten Systems erledigen. Dennoch scheint die Utopie oder Dystopie der allgegenwärtigen Intelligenz des Künstlichen, die in der Erzählung von Propheten und Alarmisten bald die Lebenswirklichkeit bestimmen könnte, in der heutigen Realität, 2018, noch weit entfernt. So gibt es Startup-Unternehmen in diesem Bereich, deren vorgeblich künstliche Systeme (zumindest vorläufig) nur unter Mitwirkung von Menschen funktionieren: Es ist leichter und billiger Menschen dazu zu bekommen, sich wie Roboter zu verhalten, als Maschinen dazu, sich wie Menschen zu verhalten[1].
Auch wenn Automaten an nicht im Einzelnen vordefinierte Abläufe und Situationen adaptieren, bleiben sie Automaten. Euphorie und Befürchtungen in Bezug auf die Vermenschlichung der Automatisierung beruhen oft auf einer allzu einfachen Vorstellung davon, was alles dazu gehört, dass sich ein Automat wie ein Mensch verhält. Was die Interaktion zwischen Mensch und Maschine angeht: Es fällt Menschen leichter sich an Maschinen anzupassen als umgekehrt, wie raffiniert die Maschine auch sein mag. Auch die Lernfähigkeit eines heutigen künstlich-intelligenten Systems wird durch die Programmierung determiniert, von fortgeschritteneren wissenschaftlichen Versuchen abgesehen. Bei den heute erhältlichen Produkten reicht die Lernfähigkeit nicht sehr weit. Hier muss der Mensch der Maschine mindestens auf halbem Weg entgegenkommen, damit diese ihm etwas nutzen kann.
Inwieweit wird das Verhalten von Menschen, deren Lebensumfeld von Automaten bestimmt wird, seien sie mehr oder weniger intelligent, durch diese beeinflusst? Elektronische Produkte, die heute Bequemlichkeit und Übergangslosigkeit versprechen, stellen das Benutzererlebnis unter der Voraussetzung her, dass Bedürfnisse und Verhalten des Benutzers dem entsprechen, was die Produkte als normal, typisch oder praktikabel vorgeben. Der Benutzer muss sich auf das Produkt einlassen; das gilt auch für das einfachste Werkzeug. Die Komplexität der Adaption spiegelt die Komplexität des Produktes: Ob die Handhabung eines komplexen Gerätes einfach zu erlernen ist oder nicht, wo die Adaption zwischen Aneignung und Fremdbestimmung zu verorten ist, ist schwerer zu durchschauen. Nichtnutzer bemerken an Nutzern von Smartphones Verhaltensweisen, die ihnen, sei es, weil sie diese nicht verstehen, oder durch den Abstand besser erkennen, irgendwie konditioniert erscheinen (und auch Nutzer verspüren gelegentlich das Bedürfnis, ihr Verhältnis zum Gerät neu zu bestimmen).
Die Mittel befriedigen nicht nur Bedürfnisse, sie erzeugen sie auch. Für einige Menschen ‒ um ein Beispiel zu geben ‒ ist es eine anstrebenswerte Vorstellung (die manche für sich schon mit ein wenig Bastelei umgesetzt haben), dass die Heizung zuhause über das Internet über die bevorstehende Ankunft benachrichtigt wird, damit diese auf die zuvor mit Sensoren gemessene Wohlfühltemperatur hochfährt. Mir erscheint das nicht nur als unnötiger Luxus, mir würden die Handgriffe fehlen, mit denen ich mich ‒ wenn auch nur auf einer alltäglich-elementaren Ebene ‒ als autonom handelndes Individuum erfahren kann. Motiviert den Smart-Home-Enthusiasten der zusätzliche Komfort oder der Zugewinn an Kontrolle? Dass Technikbegeisterung leicht den Charakter eines Fetisches annehmen kann, führte Jacques Tati in Mon oncle (1958) vor: Die Konstruktionen, die ihre Aufgabe viel umständlicher erledigen als die manuellen Tätigkeiten, die sie ersetzen sollen, verweisen durch satirische Übertreibung darauf, dass Technik oft um ihrer selbst willen eingesetzt wird.
So wie die Fordisierung nicht nur die Produktion durch Aufteilung der Produktionsschritte optimierte, sondern eine Fordisierung von Arbeit an sich bedingte, eine grundlegende Veränderung der Arbeitsbedingungen, die Entfremdung vom Produkt und die Ersetzbarkeit des Einzelnen ‒ eine Entwicklung, die weiter fortschreitet, auch wenn sie vereinzelt teilweise zurückgenommen wurde ‒ so könnte die sogenannte Digitalisierung, also die Automatisierung von Verwaltungs- und Lebensabläufen eine Digitalisierung menschlichen Verhaltens bedingen, des Umgangs der menschlichen Beteiligten mit den Automaten, mit sich und mit den anderen Menschen. Automatisierung setzt Formalisierung voraus, Volumenproduktion wird durch Normalisierung begünstigt; es gibt also zumindest ein Momentum, das im Widerspruch zu einer verbesserten Anpassung an individuelle Bedürfnisse und Vorlieben steht. Das Produkt-Design von Massenprodukten orientiert sich an einem Durchschnittskonsumenten, der sich aus statistischer Mittelung und gesetzten Vereinfachungen zusammensetzt.
Der technische Fortschritt wird weiter gehen und sich dabei weiter beschleunigen. Vieles, das wir uns noch gestern nicht vorstellen konnten, ist heute Alltag, und in einer nicht allzu weiten Zukunft wird es manches sein, von dem wir heute nicht einmal eine Idee haben. Es scheint nur, dass adaptive Automatisierung und künstliche Intelligenz nicht unbedingt Individualität und Vielfalt fördern. Die vermeintlich dressierten Automaten konditionieren zu einem gewissen Grad auch die Menschen, die sich ihrer nur zu bedienen vermeinen. Wenn Automatisierung immer weitere Lebensbereiche erfasst, stellt sich die Frage, wie dies unsere Lebensweise nicht nur erweitert, sondern verändert. Nicht nur wie heute etwa für die Kleidung von der Stange, ob im Kaufhaus oder beim Versandhandel erworben, werden wir Modi finden müssen, die eine individuelle Aneignung oder zumindest Erscheinung herstellen. Wird der einzelne Nutzer hochentwickelter technischer Geräte Möglichkeiten erhalten, Hardware und Software zu individualisieren, an Bedürfnisse und Vorlieben anzupassen, die nicht nur kosmetisch sind, sich nicht auf die Auswahl von Farben, Hintergrundbildern, Signaltönen beschränken, sondern den Umgang mit der Technik selbst, die Verfahrungsweisen einbeziehen? Nur auf diese Weise wird die Technik nicht nur sich den Anschein des Menschlichen geben, sondern den Benutzern eine menschliche Aneignung ermöglichen.