Musik
Klangpinsel
Soundpainting, wörtlich „Klangmalerei”, nicht so sehr im Sinne von „mit Klang malen” als eher „Klangmalen”, ist eine von Walter Thompson seit etwa 1975 entwickelte Zeichensprache, die zur Steuerung kollektiver Improvisationen von Musikern, Sprechern und/oder Tänzern durch einen oder mehrere Dirigenten dient. Der Zeichenvorrat besteht aus mittlerweile rund 800 Gesten, von denen etwa vier Dutzend das Grundvokabular ausmachen. Thompson verbreitet seine Sprache u.a. mit zwei Arbeitsbüchern (auf Englisch oder Französisch), die online über soundpainting.com bestellt werden können. (Es könnte auch von einer Vermarktung gesprochen werden, das Markenzeichen für den Begriff Soundpainting besteht jedoch nicht mehr.) Es ist bestimmt empfehlenswert, die Sprache in einem Kurs zu erlernen. Soundpainting ist nicht einfach eine Ansammlung von Gesten, sondern ein System, das die Gesten in einen syntaktischen Zusammenhang stellt. Die als Blog geführte Web-Site der internationalen Soundpainting-Community ist soundpainters.org.
Soundpainting als Zeichensprache für Echtzeitkomposition (live composing sign language) zu bezeichnen, erscheint mir jedoch als übertrieben, denn die Gesten können nur einen Teil von dem beschreiben, was erzeugt wird und was dabei herauskommt – wobei die Frage vernachlässigt sei, ob sie eher auf ersteres oder auf letzteres zielen. Auch ist die durch gestische Zeichen mögliche Informationsdichte eher gering, was andererseits den Vorteil hat, dass den Ausführenden improvisatorische Freiheit bleibt – was in der Absicht dieses Dirigiersystems liegt. Es besteht jedoch auch die Gefahr eines stereotypen Idioms, das sich in wabernden Klangteppichen äußert, bei denen der dirigierende „Klangmaler” sich aus mehr oder weniger klar definierten „Farbtöpfen” bedient – Texturtypen und Texturelementen – ohne dass ein Formverlauf erkennbar wird. Größere Ereignisdichten sind mit zwei oder mehr Dirigenten möglich. In jedem Fall aber hängt das Gelingen ebenso von den Ausführenden und eventuellen zusätzlichen Vereinbarungen, etwa einer Materialpartitur ab, wie vom kreativen und gestischen Talent des oder der Soundpainting-Dirigenten.
Gestoßen bin ich auf Soundpainting durch Etienne Rolin, den ich vor vielen Jahren bei einem Sommerkurs mit György Ligeti in Aix-en-Provence kennengelernt habe und der inzwischen in Bordeaux lebt und wirkt. Seine Projekte, die Soundpainting einbeziehen, wie ein Multimediaspektakel im Museum CAPC in Bordeaux 2008 (Ausschnitt auf YouTube) und das multimedial erweiterte Hörspiel «Caverne 3D» (Ausschnitt auf YouTube), zeichnen sich durch reiche Oberflächen und großräumige Entwicklungen aus. Rolins Musik ist Kunstmusik auf der Grundlage der europäischen Musiktradition, die unter anderem Einflüsse von experimentellem Jazz in sich trägt.
In Europa hat Soundpainting vor allem im französischen Sprachraum Verbreitung gefunden. Zwei Jazz-Ensembles, die mit dem Dirigiersystem arbeiten, seien hier genannt: zum einen das Ensemble Anitya, zum anderen das Surnatural Orchestra. In Mailand und Umgebung leben die Musiker des SPIO (Soundpainting Italian Orchestra). In Deutschland ist die Flötistin Sabine Vogel als Musikerin und Pädagogin in Sachen Soundpainting unterwegs.