Film

Zahlen im Kopf

Gestern habe ich mir noch einmal Prénom Carmen (Vorname Carmen) angeschaut, meiner Ansicht nach einer der besten Filme von Jean-Luc Godard. Der mit 80 Minuten knapp abendfüllende Film von 1983 wirkt wie mit leichter Hand hingeworfen. Tatsächlich hat JLG /ʒi’ɛlʒe/ – wie Franzosen ihn in ihrer Vorliebe für Akronyme auch nennen – seine Art Filme zu machen mit der Herangehensweise von zwei oder drei Jazz-Musikern verglichen, die sich ein Thema geben, spielen, und dann kommt alles zusammen. Dass die Form aber doch kalkuliert ist, deutet er damit an, dass er in der Rolle des angeschlagenen, etwas durchgedrehten Regisseurs Jean häufig mit einem Rechenstab herumspielt, und beiläufig mit einem Mao-Zitat: Man muss die Zahlen im Kopf haben.[1]

Der Film ist ein Meisterwerk des vertikalen Schnittes. Die Musik besteht – bis auf wenige Ausnahmen – aus Ausschnitten aus Streichquartetten von Beethoven (hauptsächlich der letzten drei)[2], gespielt vom Quatuor Prat, das mehrmals auch zu sehen ist (die Violinistin Claire allerdings ist ein Double). Verschiedene Arten und Grade des Versatzes zwischen Bild- und Tonschnitt und der Überlappung und Überlagerung der Musik mit Stimmen und Geräuschen der Handlung werden durchgeführt, einschließlich der Überlappung der Streichquartettschicht mit sich selbst. Die Streichquartettschicht steht gleichberechtigt neben dem Handlungsstrang der Geschichte Carmens, sodass sogar das Verhältnis zwischen Hauptschicht und Einfügungen in der Betrachtung durchaus vertauscht werden kann. In einem Interview bezeichnete Godard Beethovens Quartette als zugrundeliegende Musik, die es erlaubt, die Handlung zu lenken. Beethovens Musik steht aber auch für intellektuelle Arbeit und methodische Betrachtung des Geschehens, und damit in einem gewissen Sinne auch für die Frau mit dem Vornamen Carmen, die sich eher nüchtern als leidenschaftlich zur Welt stellt.

Und ein Zitat aus Beethovens Tagebuch (nicht als solches gekennzeichnet) gegen Ende des Films erscheint als Begründung der Montagetechnik Godards: Die genaue Zusammenhaltung mehrerer Stimmen hindert im Großen das Fortschreiten einer zur anderen.[3] Ebenso wie die Musik aus dem Hintergrund tritt und als von Musikern gespielte sichtbar wird, wird die Handlung der Geschichte Carmens wie in einem Spiegel als gespielte gebrochen. Das fiktionale Illusionskino hat zwar den asynchronen Schnitt in sein technisches Repertoire übernommen, aber meistens nur als Mittel, die Schnittgrenze zu kitten. Bei Godard geht es bei der Verschiebung im Gegenteil darum, die Illusion aufzubrechen, einen Zwischentext zu gewinnen, in welchem sich die verschiedenen Schichten metafiktional kommentieren, und die Schichten als Schichten erfahrbar machen. Deshalb setzt er die Schnittkanten eher scharf als vermittelnd.

Godards Arbeitsprinzipien sind weniger Disposition und Organisation als Konzept und Improvisation. Isabelle Adjani empfand den Mangel an Vorbereitung und Vorhersehbarkeit bei den Dreharbeiten als traumatisch, die sie deshalb nach einer Woche verließ, was der jungen Schauspielerin Maruschka Detmers ein Film-Début in der Rolle als Carmen verschuf. Godards Arbeitsweise intendiert die kreative Freiheit des Filmautoren, weniger die der Schauspieler und der anderen Mitwirkenden, die durchaus vorhanden sein kann, wenn auch nicht unbedingt immer als selbstbestimmte. Dennoch erscheinen alle seine Filme als kollektive Improvisation innerhalb eines Rahmens, der durch Plot und Gestaltungsprinzipien gesteckt wird.

Die Adaption des schon hundertfach adaptierten Carmen-Stoffes ist Adaption an sich, und sie wird von Zitaten (und Scheinzitaten) unterschiedlichster Herkunft durchsetzt. Godard und seine Drehbuchautorin Anne-Marie Miéville verlegen die Handlung, die nur punktuell an die Novelle von Prosper Mérimée anknüpft, in die Gegenwart. Carmens Milieu ist eine Gruppe von Terroristen. Deren erster Überfall auf eine Bank wirkt wie eine wilde Slapstick-Einlage.[4] Bei einem Treffen mit dem Chef der Terroristen in einem Bistro hat Jean, den diese für die Tarnung eines weiteren Überfalls als Dreharbeiten missbrauchen wollen, ein Buch über Buster Keaton bei sich. Im Luxushotel, in dessen Speisesaal der zweite Überfall stattfinden wird, manifestiert sich die Entfremdung zwischen Carmen und Joseph, dessen besitzergreifende Liebe eine liebevolle Begegnung der beiden unmöglich macht. Der im Hotelzimmer verlassene Joseph lässt eine Hand über den Fernsehschirm hängen, über den Rauschkörner flimmern. Dazu erklingt in einer Ausnahmestellung der Musikschicht Ruby’s Arms von Tom Waits, eine klanglich rauhe, in der Verschmutzung Verletzlichkeit offenbarende Ballade vom Ende einer Liebe.

Momente der Nähe hatte das Liebespaar in der Ferienwohnung des Regisseurs am Meer. Der ruhige Mittelteil des Films ist gewissermaßen ein Adagio, das von zwei Allegro-Teilen umrahmt wird. Das Rauschen der Brandung am Strand der Normandie, das in wechselnden Einstellungen eine weitere Schicht im Gefüge der Gegenschnitte bildet, verdoppelt die Beruhigung des Atemflusses. Die Entrückung, welche die Nähe herstellt, der scheinbare Stillstand der Zeit, drückt sich in einem längeren Wegfall des Originaltons aus. Zuvor hatten sie eher aneinander vorbei geredet. Carmen sagt ihm, dass sie den Leuten zeigen will, was eine Frau mit einem Mann macht, und greift ihm zwischen die Beine. Am Ende wird sie fragen, warum es Männer gibt.

Am Anfang des Films zieht Jean die Krankenschwester anzüglich auf, indem er meint, er würde vielleicht Fieber bekommen, wenn sie ihre Finger statt des Thermometers in ihn steckte und bis 33 zählte. Gegen Ende des Films bedankt er sich bei ihr, die ihn als Pflegerin und Sekretärin begleitet, dass sie sich Zeit genommen habe bis 33 zu zählen. Die Zahl bezieht sich auf die Anzahl der Gestaltungselemente (Einstellungen) davor: Ein metafiktionales Lob der Sublimation.

1. Der Aufenthalt des Alter Ego von JLG in einem „Irrenhaus” und die Bewertung Maos als „großen Koch” könnten als eine Art entschuldigende Rechtfertigung seiner maoistischen Eskapade von 1968 interpretiert werden, die ihm die Beschimpfung als „bescheuertesten prochinesischen Schweizer” durch die Situationisten eingebracht hatte (in einem Slogan-Graffito des Pariser Mais, das René Viénet in einem Buch über die Situationisten überliefert). Jean fügt seinem Zitat hinzu: Er ist schon vergessen, aber er war ein großer Koch. Er hat ganz China ernährt.
2. Ausschnitte aus den letzten drei Streichquartette Beethovens Nr. 14-16 opp. 131, 132 und 135, sowie aus zweien der mittleren Schaffensperiode, Nr. 9 op.59 und Nr. 10 op.74.
3. So der originale Wortlaut in Beethovens Tagebuch. In der deutschen Synchronfassung steht hier eine weniger klare Rückübersetzung der französischen Fassung: L’union parfaite de plusieurs voix empêche, somme toute, le progrès de l’une vers l’autre.
4. Die Einstellung mit der Reinigungsfrau ist dagegen vielleicht eine Allusion an eine Stelle im Roman Der Schaum der Tage von Boris Vian, in der verunglückte Eisläufer von der Eisfläche getragen werden, während die anderen sich weiter vergnügen.

9. September 2011 von Kai Yves Linden
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