Musik

Klang und Musik: Töne

Unsere Wahrnehmung vereinfacht und ordnet die Welt, sodass wir uns in ihr orientieren können. Zugleich haben wir grundsätzlich die Fähigkeit, Vielgliedrigkeit und Unregelmäßigkeit der Erscheinungen zu erkennen, die wir im Alltag als Objekte zusammenfassen. Dies gilt auch für das auditive System: Es ermöglicht uns, einen Strom von akustischen Reizen auf unseren existenziellen Horizont (unsere Lebenswirklichkeit im Alltag) zu beziehen. Aber es betrügt uns auch.

Es lohnt sich oft, auf die Grundlagen zurückzugehen. Unsere Stimmlippen schwingen pulsförmig und erzeugen dabei ein harmonisches Spektrum, das im Vokaltrakt, also durch Hals und Mund gefiltert wird. „Harmonisch” wird ein Spektrum genannt, wenn die Frequenzen der einzelnen Teilschwingungen in einem ganzzahligen Verhältnis zueinander stehen. Ein solches Spektrum, das unser Ohr als „Ton“ zusammenfasst, ist eigentlich ein Klang, der aus vielen „einfachen“ Tönen (Sinusschwingungen) besteht, also gewissermaßen ein „zusammengesetzter Ton“. Die Wahrnehmung einer harmonischen (oder nahezu harmonischen) komplexen Schwingung als Ton ist ein Phänomen, das als Grundtonhören bezeichnet wird. Dieses befähigt uns – gegegebenenfalls auch unter dafür ungünstigen Umständen – eine Grundschwingung zu erkennen. Als Grundschwingung wird der größte gemeinsame Teiler der Frequenzen der ganzzahligen Vielfachen (oder zumindest nicht zu sehr von diesen abweichenden Frequenzen) erkannt. Wie das genau funktioniert, ist heute noch ein offenes Rätsel bei der Erforschung der menschlichen Sinne.

Zugleich erkennt das Ohr teilweise nur geringfügige Unterschiede in der Amplitude (Energie) der Teilschwingungen, wie sie auch durch das sprachliche Artikulationssystem hergestellt werden. Bei der sprachlichen Kommunikation werden die von den Neuronen analysierten farblichen Unterschiede Vokalen zugeordnet. Das spektrale Hören wird auch als Obertonhören bezeichnet. Die Gewichtung dieser neuronalen Informationen scheint bei Menschen, sei es physiognomisch, genetisch oder durch Aneignung bedingt, jedoch unabhängig von musikalischen Kenntnissen und Fähigkeiten unterschiedlich ausgeprägt zu sein.[1]

Als Komponist erscheint es mir allerdings nicht interessant, ob einzelne Hörer eher zum einen oder dem anderen Typ tendieren. Interessant ist, dass das auditive System stets Entscheidungen in Bezug auf die beiden Aspekte treffen muss, dass diese aber bei einem gleichen Schallereignis, selbst bei der gleichen Person, abhängig von Umgebung und Kontext, unterschiedlich ausfallen können. Die meiste Musik besteht nicht entweder aus Tonfolgen oder aus Klangbewegungen, sondern ist eine Art von Mischung von dem einen und dem anderen, eine Balance, die als solche Bewegung ist. Musik kann sich auch auf die Unsicherheit dieser Balance beziehen und durch das Erlebnis der Unsicherheit Vergnügen bereiten, etwa durch akustische Täuschungen oder ambivalente Kontexte, welche die Abgrenzung von Ton, Klang und Geräusch verwischen. Was ich selbst in Musik wiederzuentdecken suche, ist das Wechselbad von Wiedererkennen und Verwunderung, das in einem kindlichen Spiel mit Klängen aus der Herausforderung der Natur unserer Wahrnehmung entstehen kann.

1. Versuchsreihen der Forschungsgruppe Musik und Gehirn
an der Neurologischen Klinik in Heidelberg scheinen dies zu zeigen, s. http://www.musicandbrain.de/veroeffentlichungen.html.

21. Juli 2016 von Kai Yves Linden
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