Philosophie

Transparenz des Kunstwerkes

Statt einer Hermeneutik, schloss Susan Sontag ihren Essay Gegen Interpretation (Against Interpretation, 1964), bräuchten wir eine Erotik der Kunst.[1] Jedoch ist die Auffassung, dass es sich bei Kunstwerken um Verpackungen von Inhalt handelt, den es ans Tageslicht zu bringen gilt, auch heute allgegenwärtig. Im Deutschunterricht an weiterführenden Schulen bleibt, soweit es von außen scheint, Hans Magnus Enzensbergers bescheidener Vorschlag zum Schutz der Jugend vor den Erzeugnissen der Poesie weiterhin unbeachtet, eine 1977 in der Zeitschrift Tintenfisch erschienene, immernoch erfrischende Tirade.

Die Lektüre ist ein anarchischer Akt. Die Interpretation, besonders die einzige richtige, ist dazu da, diesen Akt zu vereiteln.

Enzensberger zitiert mehrfach aus Sontags Aufsatz, von dem er bemerkt, dass er zwar berühmt geworden, aber folgenlos geblieben sei. Anscheinend sehen Kunstkritiker die Aufgabe ihres Berufes eben darin, Kunst das Beunruhigende zu nehmen.

In den meisten modernen Fällen läuft Interpretation auf die philiströse Weigerung hinaus, das Kunstwerk es selbst sein zu lassen. Wahre Kunst hat das Vermögen uns nervös zu machen. Durch die Reduktion des Kunstwerkes auf seinen Inhalt und die Interpretation von diesem wird das Kunstwerk gezähmt. Interpretation macht Kunst handhabbar, komfortabel.

Sontag wendet sich nicht gegen Kunstkritik an sich. Sie weist darauf hin, dass es interpretierender Kritik nicht darum geht, das Verständnis – und besonders das Erleben von Kunst zu vertiefen. Interpretation zielt darauf, das Kunstwerk zum Verschwinden zu bringen, es durch die Interpretation zu ersetzen. Eine Interpretation ist aber nur eine von vielen möglichen, wenn auch oft mit dem Anspruch vertreten, die einzige zu sein. Wenn ein Kunstwerk die Annäherung an es durch Dechiffrieren seiner Zeichen nahelegt, dann besteht die Annäherung im Dechiffrieren als Akt und kann durch die vermeintliche Kenntnis eines Klartextes oder Subtextes nicht erleichtert oder beschleunigt, sondern nur verstellt werden.

Das Ziel allen Kommentierens von Kunst sollte sein, Kunstwerke – und, in Analogie dazu, unsere eigene Erfahrung – mehr statt weniger real für uns zu machen. Die Funktion der Kritik sollte sein zu zeigen, wie es das ist, was es ist, und nicht, zu zeigen, was es bedeutet.

Transparenz bezeichnet Sontag als höchsten, befreiendsten Wert in Kunst – und Kritik. Transparenz bedeutet, ein Ding als es selbst zu erleben. Das Gelingen eines Kunstwerkes besteht also darin, das, was es ist, erlebbar zu machen.

1. Susan Sontag: Against Interpretation. New York (Farrar, Straus & Giroux) 1966.

2. Juli 2011 von Kai Yves Linden
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