Musik
Musik über Musik
Manchmal suche ich in meinem privaten digitalen Archiv nach Beispielen, wie ich etwas einmal gelöst habe, oder ich bin irgendwie in Gedanken auf etwas gekommen, was dort zu finden ist, und habe Ideen für eine verbesserte Version. Letzteres ist der Fall bei meiner Radiophonie (in früheren Versionen auch Radiophone Sequenzen), einer Montage von Musik- und Sprachausschnitten aus Radioprogrammen in den Sendefrequenzbereichen Ultrakurzwelle, Kurzwelle und Mittelwelle, deren erste Version ich 1979 erstellt und 1985 um weitere Sequenzen ergänzt hatte.
Meine ursprünglichen Ausgangsideen waren zum einen das Drehen am Senderwahlrad (Standard beim analogen Empfang der vordigitalen Zeit) als durch das Medium gegebener Zwischenzustand und zum anderen die Anlehnung an die Schnitttechnik beim Film, die unterschiedliche Einstellungen in einen syntaktischen und damit in einen semantischen Zusammenhang bringt.
Das Senderwahlrad passiert bauartbedingt auch Frequenzstellungen, an denen Verzerrungen, Verrauschug und Interferenzen auftreten. Die sonst eigentlich unerwünschten, hier aber bevorzugten Artefakte der Demodulierung des Sendesignals, die das Medium selbst sinnlich in den Vordergrund treten lassen ‒ und auch andere Komponisten fasziniert haben – treten in unterschiedlicher Abstufung auf. Gegen Ende der Sequenzen werden die geräuschhaften Artefakte schließlich zur eigentlichen Hauptsache und sind nicht mehr nur Störung und Verfärbung.
Zunächst ist es jedoch die Musik, die sich unter den Geräuschen als Träger von Semantik behauptet. Die einzelnen Fragmente unterschiedlicher Dauer zwischen einer Zehntel und mehreren Sekunden, die verschiedene typische semiotische Topoi repräsentieren, die in Musik verschiedener Genres wie populärer Musik, leichter Unterhaltungsmusik oder Wunschkonzertprogrammen, bei Jingles ebenso wie bei Kunstmusik zu finden sind, bilden in ihrer Aufeinanderfolge eine Art Superprogramm. Unsere Wahrnehmung versucht immer einen Zusammenhang herzustellen. Die Sequenzen erscheinen manchmal eher zufällig, manchmal suggerieren sie ein imaginäres Drama, das jedoch jedesmal ins Leere läuft und sich als absurd oder vielmehr substanzlos erweist.
Durch das verwendete Material von 1979 und 1985, insbesondere durch die Einsprengsel aus Nachrichten und Werbung wie auch durch Ausschnitte aus typischen Programmbestandteilen, die heute verschwunden sind, ist die Montage einerseits eine Art Zeitdokument, andererseits ist die in dieser Montage manifestierte Informationsfülle – und die mit ihr verbundene Ambivalenz von Vielfalt und Beliebigkeit – in den digitalen Medien von heute nicht nur ebenso vorhanden, sondern hat durch diese noch zugenommen.
Die ursprüngliche Idee für die Aufführung war, dass die Montage (in verschiedenen Varianten) als Teil einer multimedialen abstrakten Theateraktion von Theaterpersonal durch den Raum getragen würde, das sich nach dem Vorbild von Platzanweiser(inne)n, die im Vorführraum eines Kinos Süßigkeiten verkaufen, mit einem Bauchladen mit bedruckten Karten sowie einem Abspielgerät durch die Publikumsreihen bewegt. Zu einer Realisierung einer solchen Theateraktion ist es nicht gekommen. Ein paar Jahre später habe ich mit befreundeten Musikern und Künstlern ähnliche konzeptuell orientierte Projekte realisiert (unter den Titeln „Doppelquartett“ und „Watt“), bei denen ebenfalls Gefundenes und Vorgefertigtes als Klangmaterial verwendet wurde, dort jedoch nicht im Sinne einer Musik über Musik, sondern vielmehr im Sinne einer Rekontextualisierung, zu der als amalgamierendes Element auch die zusätzliche freie Improvisation auf Musikinstrumenten beitrug. Doch zurück zu den Radiophonen Sequenzen – die eine Musik über Musik sind: Bei diesen wäre durch die räumliche Bewegung verschiedener Varianten eine aleatorische Komponente ins Spiel gekommen, die der statischen Version fehlt. Es ist aber durchaus im Sinne des Konzepts beim Abspielen die Position in der Zeitlinie zu ändern und nach vorn und nach hinten zu springen.
Allerdings gibt es bei den Sequenzen – bei aller scheinbaren Beliebigkeit – einen übergeordneten Verlauf, der als Versuch beschrieben werden kann, den semantischen Ballast abzuschütteln. Ungefähr in der letzten Minute verschwindet mit der zunehmenden Verlagerung an die äußeren Ränder des Frequenzbereichs die vorgefundene Musik und die mit ihr verbundene semantische Suggestion – und es scheint die Möglichkeit befreiten Klangs auf. Das durch das Drehen des Senderwahlrads entstehende Aufzucken von Verzerrungsklängen ist zwar ebenfalls semantisch überladen, doch diese Geste wird unmittelbar durch die manuelle Aktivität formuliert, sie entsteht aus der Einstellung der Empfangsfrequenz und reproduziert nicht mehr nur, was die Senderwahl an Vorgefertigtem absichtlich oder zufällig findet.
2019, 40 Jahre nach der ersten Version, hatte ich die Tonbandaufnahme digitalisiert und dabei restauriert. Diesmal, noch einmal rund vier Jahre später, habe ich auch Kürzungen vorgenommen und Übergänge geglättet. Mit dem zeitlichen Abstand ist es mir leichter gefallen, auch besonders schöne Funde (teilweise um die Hälfte) zu kürzen. Die Kürzungen betreffen etwa 30 % aller Fragmente zielen auf die Integration in die Aufeinanderfolge innerhalb der Sequenz, also darauf, dass die einzelnen Fragmente zusammen etwas Anderes, Neues herstellen. Diese Straffung macht insgesamt etwa ein Achtel der Gesamtdauer aus, die sich somit von etwa 14 auf etwas mehr als 12 Minuten reduziert. Durch Kanaltausch habe ich an einigen Stellen die empfangsbedingte ungleiche Verteilung auf linken und rechten Kanal (insbesondere bei sterophonen Fragmenten) ausgenutzt, um Fragmente stärker gegeneinander abzusetzen. An einigen wenigen Stellen habe ich die Verzerrung oder Verfärbung mit Resonanzfiltern leicht betont, doch im Großen und Ganzen habe ich die Materialsubstanz so belassen, wie sie war.
Zur Seite zum Abspielen der Klangdatei: Radiophonie.