Musik

Das wohltemperirte Clavier, Fuga 14

Fuga 14 (WT1) Seitdem mir die kurzen Notenwerte aufgefallen sind, die in manchen Stücken der beiden Bände des Wohltemperierten Klaviers von Johann Sebastian Bach in Ausnahme­stellung erscheinen, lassen mich diese nicht mehr los. In der fis-Moll-Fuge des ersten Bandes sind es zwei Sechzehntel, die die sonst fast durchgehende Achtel­bewegung einmalig im 29. von insgesamt 40 Takten beschleunigen. Es ist wahrscheinlich, dass Aufbau und Verlauf der Fuge einen Hinweis darauf geben können, was die aus­nahms­weise Noten­wert­ver­kleinerung motivieren könnte. – Um die Ausnahme zu verstehen ist es notwendig das Ganze zu verstehen.

Das Fugenthema zeichnet bei den Noten­dauern eine gewisse Unent­schieden­heit aus, die sich aus der in der ersten gehaltenen Note angestauten Energie ergibt, bei den Tonhöhen ‒ deren Ambitus nicht über eine Quinte hinausgeht ‒ leit­tönige Alterationen, welche die Tendenz der Bewegung teilweise verstärken, teilweise harmonisch umdeuten. Insgesamt handelt es sich um eine Aufwärts­bewegung von der I. zur V. Stufe der durch die Alterationen verbogenen Skala, die im dritten Takt zwar zum Grundton zurückfällt, vom Comes dann aber fort­gesetzt wird. Erst der Einsatz des Comes erhellt im Verhältnis zum Schlusston des Dux das 6/4-Metrum, das hier, der Tradition entsprechend, zwar grund­sätzlich binär gegliedert wird, aber eine ambivalente Tendenz zu ternärer Aufteilung aufweist. Um so prägnanter wirkt der charakteristische Rhythmus des Kontra­subjektes, den Riemann[1] als „Schuppen­bewegung“ charakterisiert (auf das nord­deutsche Schupp für Schubs, Stoß zurück­gehend). Das Kontra­subjekt begleitet das Subjekt bei allen Durch­führungen, wobei der Einstieg in diese schiebende Achtel­bewegung – eine rhythmische Belebung synkopisch verschobener Viertel – jedesmal anders gestaltet wird. Nur bei den beiden Durch­führungen in Umkehrung wird es insgesamt stärker variiert. Kurth[2] erkennt im Haupt­motiv des Kontra­subjektes ein Seufzer­motiv – das bei Bach öfter in ähn­licher fallender Ver­kettung erscheint – und notiert es mit Legato­bögen über den Sekund­schritten. Busoni[3] wendet sich aus­drücklich gegen eine solche Auffassung und leitet aus dem rhythmisch Synkopischen vielmehr eine Portato-Artikulation ab. Meine eigene Auffassung geht dahin, dass beides darin steckt – indem die pulsierenden Syn­kopen als Umformung oder Umdeutung von Seufzer­kaskaden verstanden werden können, was durch ein poco legato (kaum gebundenes) Spiel geeignet ausgedrückt würde. Nicht zuletzt handelt es sich bei dieser Ambi­valenz um nur eine von einigen Momenten von Mehr­deutig­keit in dieser Fuge.

Die Harmonik dieser Fuge schwebt zwischen funktionaler Kadenzierung (wie etwa bei den Zwischen­dominanten, welche sich aus den Leit­tönen des Subjektes ableiten) und Wendungen, die auf ältere Stil­vorbilder zurückgehen, etwa in Parallel­sukzessionen, die aus dem Faux­bourdon zu kommen scheinen. Die Stimm­führung weist gelegentliche Härten auf, die nicht allein aus der von Kurth konstatierten kinetischen Energie der thematisch gebundenen Linien, die sich über Stimm­führungs­regeln hinweg­setzt, begründet werden können. Ein im Fluss der Linien unvermittelt aufblitzender Moment ist die neapolitanische Variante der Subdominante, die erstmals in Takt 13 auftritt, allerdings als Quart­akkord in einem Aufwärts­durch­gang und nicht als auf dem Grundton der vertretenen Sub­dominante stehender Sext­akkord. Dem folgt im über­nächsten Takt, in einer Unter­terzung des Themen­kopfes, eine hinzu­gefügte Sexte (auf dem Einsatz der ersten Durch­führung des Subjektes im zweiten Teil), der die leiter­eigene Variante des alterierten Tons unmittelbar vorangegangen ist. Die meisten der aus dem Subjekt abgeleiteten Alterationen in dieser Fuge stellen harmonisch ein ständiges Umdeuten von Moll- und Dur-Varianten her.

Dass es sich beim zweiten Teil überhaupt um einen handelt, bestreitet Busoni und sieht in Riemanns Einteilung in drei Teile eine (von ihm für jenen als typisch gesehene) zwanghafte Systematik; für ihn ist nur der formale Einschnitt als solcher anzusehen, der in Takt 28 durch das vorüber­gehende Pausieren von Tenor und Bass hergestellt wird. Dafür, diesen Takt als Schlüssel­stelle zu betrachten, gibt es noch weitere Gründe, anderer­seits sprechen einige Merkmale durchaus für eine Drei­teilig­keit – paradoxerweise die gleichen, die Busoni veranlassen, diese Takte als Vervollständigung des ersten Teils zu betrachten. Mit dem Einsatz des Dux in Takt 15 wird die Fuge erst eine vier­stimmige und mit diesem beginnt eine weitere Ent­faltung des Tonraums in die Höhe, der sogleich, mit der Beantwortung durch die Umkehrung des Subjektes, eine in die Tiefe folgt. Was die Stimm­anzahl angeht, fällt diese alsbald vorläufig wieder in die Drei­stimmig­keit zurück, um erst zum Ende hin wieder zur Vier­stimmig­keit zurückzukehren. Für die Drei­teilig­keit spricht außerdem, dass die Themen­durch­führungen nach der Exposition vor und nach dem Einschnitt sich jeweils durch einen Wechsel von Grund­gestalt (G) und Umkehrung (U) auszeichnen (G im Sopran, U im Alt, G mit abgewandeltem, die Achtel­bewegung als Schwung in den Diskant aufnehmendem Themenkopf im Sopran in hoher Lage, dann G im Tenor, U im Bass und zuletzt noch einmal G, wieder im Sopran). In der Unschärfe des ersten Formschnittes bestätigt sich mein Verständnis dieser Fuge als Spiel mit Ambivalenz auf verschiedenen Ebenen.

Fuga 14 (WT1)

Der Ton­raum­verlauf ist es insbesondere, welcher Takt 28 als Schlüssel­stelle strukturell konstituiert. Zwei Takte davor wurde mit dem großen Cis der tiefste Ton des Stücks erreicht, der zudem durch das Fehlen einer Verbindung zum zweit­tiefsten Ton (das große Eis) exponiert erscheint. Am Ende von Takt 28 wird dann mit dem zwei­gestrichenen h der höchste Ton erreicht (gewisser­maßen als Überhöhung des a, das beim vom Bach im Auto­graph verwendeten Sopran­schlüssel als Gegen­stück zum tiefen Cis mit zwei Hilfs­linien notiert wird) – und dieser wird mit den beiden Sech­zehnteln einen Takt später verlassen. Nach diesen Sechzehnteln – die sich somit als Wende­punkt erweisen – geht es nur noch abwärts durch den Tonraum, eine Bewegung, die durch das vor dem Schluss­akkord nochmals auftretende große Cis sozusagen besiegelt wird. Die allmähliche Abwärtsbewegung, die Bach über die letzten zwölf Takte wellenförmig gestaltet, empfinde ich weniger als depressiv denn als „de-kompressiv“, also als Lösung der durch das Subjekt bestimmten Anspannung. Die letzte Durchführung des Fugenthemas als Coda wird durch ein Zwischenspiel vorbereitet, in welchem das Kontrasubjekt anders als in den vorigen lockeren Zwischenspielen sich in einer neuen, gefestigten Form darstellt, eine Sequenz, in der sich Außen- und Innenstimmen paarweise imitieren. Terzparallelen und aufgelöste bzw. abwärts alterierte Septimen im Durchgang ‒ das Gegenstück zu den drängenden Leittönen des Themas ‒ tragen zur Dolcezza des Klangbildes der beiden Takte bei.

Dass übrigens Glenn Gould der von Bach notierten Verdurung nicht folgt und mit einem Moll­akkord endet, erscheint mir im Wortsinn nicht schlüssig.[4] Anders als bei vielen anderen Moll­stücken, bei denen der verdurte Schlus­sakkord eher eine Konzession an die Konvention zu sein scheint (die eine explizite Notation erübrigen kann), ist dieser hier durch das der ganzen Fuge immanente Changieren der Moll­tonalität in Dur-Alterationen begründet.

1. Hugo Riemann: Katechismus der Fugen-Komposition (Analyse von J.S. Bachs „Wohltemperiertem Klavier“ und „Kunst der Fuge“). Leipzig, 1890.
2. Ernst Kurth: Grundlagen des Linearen Kontrapunkts. Einführung in Stil und Technik von Bach’s melodischer Polyphonie. Bern, 1917.
3. Ferruccio Busoni, Egon Petri, Bruno Mugellini: Joh. Seb. Bach – Klavierwerke. Neue Ausgabe, Band I – Das Wohltemperierte Klavier, I. Teil. Bearbeitet und erläutert, mit daran anknüpfenden Beispielen und Anweisungen für das Studium der modernen Klavierspieltechnik von Ferruccio Busoni. Leipzig, 1894.
4. Gould hat sich bei seinen interpretatorischen Ideen wenig von philologischen Erwägungen leiten lassen, deshalb erscheint es unwahrscheinlich, wenn er das Autograph gelesen hat, dass er vom Fehlen des Kreuzes vor der Terz des Schlussakkordes angeregt wurde, das jedoch bei der Antizipation des Tons im Vortakt steht. Die Mollvariante kann zu seiner eher verhaltenen Interpretation der Fuge von 1964 jedoch durchaus als passender empfunden werden.

6. Juni 2022 von Kai Yves Linden
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