Musik

Zeit-Linie

Time Line Das prominenteste Merkmal der Musik Afrikas der Subsahara ist der Rhythmus. Seine Grundlage ist (eine zumeist nur gedachte) durchgehende Perkussion[1], deren Geschwindigkeit einem mehr oder weniger beschleunigten menschlichen Puls entspricht. Den Grundschlag (beat), der Tempo und tänzerische Bewegungen bestimmt, überlagern langsamere und schnellere Zeitschichten, die jeweils zwei oder jeweils drei Schläge zu einer Periode zusammenfassen oder die Teilung der benachbarten langsameren Schicht verdoppeln. In der raschesten bzw. dichtesten dieser Schichten wird die nicht weiter unterteilte kleinste Einheit erreicht[2], die dem antiken chronos protos[3] entspricht. Wenn das Pulsraster (pulse) unmittelbar klingend in Erscheinung tritt, dann selten in einem einzelnen Part, sondern zumeist als Resultante, zu der sich rhythmische Muster (pattern) verschiedener Stimmen (parts) vereinigen.

Die rhythmischen Muster der einzelnen Parts geben Teilungen der Periode wieder (divisions), wobei Zweier- und Dreierteilungen hemiolisch aufeinanderfolgen können, oder besetzen ausgewählte Positionen der Pulsschicht, sodass Pulsschläge zu verschiedenen einzelnen Dauern addiert werden, wobei verschiedene Dauern (oder vielmehr Einsatzabstände) nacheinander erscheinen (additive rhythm). Bei der Kombination von Mustern entstehen Kreuzrhythmen und komplementäre Muster.

Ein Muster, dessen Anschlagsdichte nah beim Grundschlag liegt, aber aus unterschiedlich langen, also auch kürzeren Dauern besteht, und über lange Abschnitte eines Stückes wiederholt wird, dient als Schlüssel- oder Leitlinie und wird time line (Zeit-Linie) genannt, oder nach den Instrumenten, mit denen sie häufig ausgeführt werden – Idiophonen aus Metall – auch bell pattern. Sie stellt eine Orientierung für die Ausführenden her, indem sie die Vorstellung des Pulsrasters erleichtert.

Die Perioden sind dagegen eher übergeordnete Dauern, die eine vielfältig teilbare Anzahl von Schlägen zusammenfassen, und beinhalten anders als das europäische Metrum keine Gewichtung von Schlägen (mit schweren und leichten Positionen). In der afrikanischen Musik kann der Einsatzpunkt eines Musters beliebig um eine Pulseinheit verschoben werden, auch bei der „Zeit-Linie”.[4]

Die Afrikaner, die als Sklaven nach Nord- und Südamerika verschleppt wurden, nahmen Elemente der europäischen Kultur in ihre Musik auf, die sich aufgrund ihrer erzwungenen sozialen Situation von ihren ursprünglichen kulturellen Zusammenhängen löste. Heute können wir uns kaum Musik vorstellen, die nicht auf irgendeine Weise von lateinamerikanischer Musik, Blues und Jazz beeinflusst wäre. Moderne Musik wiederum hat, wo sie das Konzept des Metrums mit gewichteten Zählzeiten aufgegeben hat, mitunter in der ursprünglichen afrikanischen Musikpraxis ein fruchtbares Vorbild entdeckt. Die afrikanische Musiktheorie, die Forscher[5] aus Überlieferungen und Beobachtungen hergeleitet haben, zeigt, dass vermeintlich Primitives, wie subsaharische Trommelmusik, sehr komplex sein kann.

1. Mit Perkussion ist hier eine Anschlagsfolge gemeint.
2. Mitunter treten jedoch noch kürzere Werte auf, indem Anschläge sehr dicht vor oder nach einem Schlag gesetzt werden.
3. Chronos protos, a. protos chronos, gr. πρώτος χρόνος, sinngemäß also Zellzeit oder Zeitzelle.
4. Das Diagramm zeigt oben das Schema der Pulsschichten mit zwei alternativen Perioden (3-time period, 2-time period). Zur leichteren Unterscheidung werden hier verschiedene Notenkopfformen verwendet, wobei der Grundschlag (beat) in weißen Quadraten notiert wird. Im unteren Teil des Diagramms habe ich drei frei erfundene einfache Beispiele notiert (Ex. 1, Ex. 2, Ex. 3), bei welchen der Zeitlinienpart (time-line) mit weißen Schlägeln und die Muster mit höherer Ansschlagsdichte (pattern), hier allesamt „additive” Muster, mit grauen oder schwarzen Schlägeln dargestellt werden. Die Notation mit Schlägeln soll verdeutlichen, dass es sich um Anschlagspunkte handelt. Die sich aus den Einsatzabständen ergebenden Dauern werden nur durch die grafischen Abstände dargestellt.
5. Meine wichtigste Quelle ist J.H. Kwabena Nketia, dessen Buch The Music of Africa von 1974 zur Standardliteratur gehört.

19. März 2012 von Kai Yves Linden
Kategorien: Musik | Schlagwörter: , , | Kommentare deaktiviert für Zeit-Linie