Dies und das

Geteilte Aufmerksamkeit

Die geteilte Aufmerksamkeit, in den von Nebenläufigkeit und Gleichzeitigkeit bestimmten Lebenszusammenhängen einer Großstadt eine geradezu lebenswichtige Rezeptionstechnik, hat beim Menschen natürliche Grenzen. Im Verkehrsraum etwa kommt, aufgrund des tagsüber oft permanenten Umgebungslärms, den Augen eine erhöhte Bedeutung als Rezeptionsorgan zu; die Augen kann man jedoch nicht überall haben, nicht zugleich links und rechts, vorne und hinten, oben und unten. (Heute erst habe ich beobachtet, dass es Autofahrer gibt, die es anscheinend als ausreichend sicher ansehen, mit nach unten gerichtetem Blick noch den Gurtanschluss zu suchen, während das Auto schon über die Straße auf einen kreuzenden Radweg zurollt.) Aber auch wenn unsere Sinne uns ständig mit allen Reizen versorgen würden, die unsere Umgebung aussendet oder bereitstellt, unser Gehirn wäre kaum in der Lage zwei zur gleichen Zeit gleichermaßen gut und in optimaler Geschwindigkeit zu verarbeiten.

Wir müssen also unsere Aufmerksamkeit ausrichten und verteilen. Dies erfordert nicht nur ein hohes Leistungsvermögen bei der Verarbeitung der Sinnesreize, das bei etwa zwanzig Lebensjahren am besten entwickelt ist, sondern auch Erfahrung, die mitunter erst spät erworben wird. Unsere Wahrnehmung ist davon bestimmt, dass die Informationen, die wir aus dem Strom der Reize beziehen, ihren Quellen ‒ Personen oder Gegenständen ‒ zugeordnet werden, und abhängig von der eingeschätzten Bedeutung der Quellen ausgeblendet bzw. abgeschwächt werden können. Dabei unterscheiden wir aufgrund von wenigen Merkmalen, abhängig vom Kontext, zwischen Wichtigem und Unwichtigem, Interessentem und Uninteressantem. Um die Entscheidung revidieren zu können, um nichts zu „verpassen“, wenden wir uns nie vollständig einer Sache zu, sondern bleiben mehr oder weniger offen.

Die Vielfalt und Dichte der Informationen wird durch Mittel, die Ursprung und Aufnahme von Reizen über beliebige räumliche und zeitliche Distanzen hinweg voneinander entfernen, noch vergrößert. Fotografie und Grammophon wurden schon im 19. Jahrhundert erfunden; das mobile Telefon in Form des Smartphones ist innerhalb des zurückliegenden Jahrzehntes allgegenwärtig geworden. Wie mag es auf ein Kind wirken, wenn seine Mutter spricht, während sie es im Kinderwagen vor sich her schiebt, aber nicht mit ihm, sondern in ein Mobiltelefon? Gelegentlich sind meist jüngere Radfahrer zu beobachten, die mit dem Blick auf einen tragbaren Bildschirm in einer Hand, mit der anderen am Lenker, mitunter in artistischer Selbstgewissheit freihändig fahren. Manchmal scheint jemand auf der Straße einem heiter entgegen zu kommen, aber dann stellt sich heraus, dass das Lächeln niemandem auf der Straße, sondern einer Stimme im Ohrstöpsel gilt. In einem Hotel sah ich einmal eine junge Frau, die beim Frühstück einen Video-Chat hielt, wobei sie nur gelegentlich etwas sagte, aber das Mobilgerät auch zum Buffet und zur Kaffeemaschine mitnahm. Natürlich bin auch ich ein Kind meiner Zeit, und wenn ich, als Ausgleich für das zu geringe Maß an körperlicher Aktivität, die meine berufliche Tätigkeit verlangt, meine Muskeln in einem Fitness-Studio trainiere, läuft auf meinem Mobiltelefon gelegentlich nicht nur eine Stoppuhr, sondern auch Musik, die auf Hörstecker in meinen Ohren ausgegeben wird. Der technische Fortschritt geht mit einem kontinuierlichen Verlust an Körperlichkeit einher, der Loslösung sinnlicher Erfahrung vom Körperlichen. Diesen Mangel müssen wir mit etwas füllen, das ihn ausgleicht.

Allgegenwärtige Technik macht es uns leicht, die Reize der Umgebung mit zusätzlichen – andere mehr oder minder überdeckenden Reizen zu überlagern. Der Begriff der Reizüberflutung impliziert einerseits ein Zuviel, kann aber auch Überlagerung beschreiben; stattdessen von Reizflutung zu sprechen trägt dem Umstand Rechnung, dass wir eine solche mitunter bewusst herstellen. Vielleicht trainieren wir damit die geteilte Aufmerksamkeit, zu der uns die komplexe Umwelt zwingt. Doch sie bereitet uns auch ästhetisches Vergnügen, nicht erst heute, wie es sich schon vor Jahrhunderten in polyphoner Musik wie der frankoflämischen Vokalpolyphonie oder von Johann Sebastian Bach manifestierte. Da es, zumindest für gewöhnliche Menschen, unmöglich ist mehr als zwei Stimmen mit unterschiedlichen melodischen Verläufen zu verfolgen, entwickeln wir dabei ein in Bezug auf den Tonraum perspektivisches Hören, bei dem die Konturen der Stimmen, die der fokussierten benachbart sind, unsere Rezeptoren gewissermaßen nur verbeistreifend treffen – ein diagonales Hören mit immer wieder wechselndem Betrachtungswinkel.

Beim Krafttraining höre ich gern klassisch-romantische Symphonien, die ich nicht allzu gut kenne. Dies bewahrt mich vor Reflexionen, die sich nicht unbedingt mit der kurzzeitigen Frustration vertragen, die dem Trainingsprinzip der lokalen Erschöpfung immanent sind. Die verschiedenen Ausdrucksmomente stören mich in Bezug auf die Aufrechterhaltung der Trainingsmotivation nicht, selbst wenn sie nicht unbedingt affirmativ sind, solange sie in einen durch Symmetrie oder Ausgleich vorhersehbaren Verlauf eingebunden sind, was bei Musik aus der Zeit, in welcher die Künste unbedingt schön oder wie in der Romantik noch schön waren, garantiert ist. Auch Musik unserer Zeit kann einen Grad an Vorhersehbarkeit erreichen, der sie für den Gebrauch im gegebenen Kontext geeignet erscheinen lässt. Die Komponisten solcher Musik mögen es mir verzeihen – es handelt sich um Werke, die keineswegs dafür geschaffen wurden – denn ich höre die Werke ja nicht nur in diesem Kontext, sondern gelegentlich auch mit ausschließlicher Aufmerksamkeit.

Das Entspannende dabei ist für mich nicht die Berieselung mit einem Klangteppich. Es ist mir klar, dass die Musik in den Momenten der größten muskulären Anspannung an mir vorbeirauscht. Dafür werde ich in den Momenten dazwischen mit einem Genuss belohnt, der durch den Wechsel der Aufmerksamkeit entsteht. Einmal kam ich dabei zufällig bei den Klangschlieren aus, die am Schluss des Finales der ersten Symphonie von Schubert in der Kontur des Themas aufscheinen. Im richtigen, möglichst raschen Tempo gespielt, entsteht dabei ein Überschuss, der etwas Orgastisches hat. Da ich noch ein paar Maschinen vor mir hatte, wiederholte ich den Satz. Am Ende hatte ich diesmal den Moment verpasst. Der ganze Satz war mir nur wie typisches Finalgetöse erschienen, denn ich hatte nur noch die formale Kontur mitbekommen. Aber dies ist eben das, was geteilte Aufmerksamkeit mit sich bringt: Sie ist als geteilte eben keine mehrfache, sondern bestenfalls gemittelt eine halbe und eine mitlaufende zweite halbe; meistens schwankt die Aufteilung jedoch stark, sodass eher der Zufall als der Wille entscheidet, wo die größere Aufmerksamkeit hingeht. Ich war immerhin glücklich, dass mir die wunderbaren Schlieren von Schubert einmal aufgefallen waren.

16. Mai 2018 von Kai Yves Linden
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