Philosophie

Intellekt und Wille

Kaum ein Autor, scheint es, wird so oft falsch zitiert wie Friedrich Nietzsche, insbesondere aus dem Zusammenhang gerissen. Allerdings neigt er eher zur polemischen, manchmal auch ironischen Überspitzung als zur differenzierten Abwägung. Mitunter legt er erfundenen Personen Worte in den Mund, von denen keines als wahres zu verstehen ist. Und nicht zuletzt hat er sich zu manchen Fragen widersprüchlich geäußert. Die Modernität von Nietzsche liegt aber gerade im programmatisch Fragmentarischen, in der Absage an eine umfassende Kosmologie.

In den Aphorismensammlungen seiner mittleren Periode sind Einsichten zu finden, bei denen es mir wert zu sein scheint, dass sie für heutige Verhältnisse weitergedacht werden. So hat er andere Unterschiede zwischen den Geschlechtern als die meisten seiner Zeitgenossen gesehen, die dem Selbstverständnis auch von heutigen Männern nicht unbedingt entsprechen. In Menschliches, Allzumenschliches heißt es im 411. Aphorismus über den weiblichen Intellekt:

[Für Solche gesagt, welche Etwas sich zurecht zu legen wissen:] die Weiber haben den Verstand, die Männer das Gemüt und die Leidenschaft. Dem widerspricht nicht, dass die Männer tatsächlich es mit ihrem Verstande so viel weiterbringen: sie haben die tieferen, gewaltigeren Antriebe; diese tragen ihren Verstand, der an sich etwas Passives ist, so weit.

Ist der „dunklere Hintergrund des Willens“ eine mit dem männlichen Geschlecht verbundene Anlage, so wie „des Weibes Art Willigkeit“ (wie die lyrische Person des weisen Mannes im 68. Aphorismus der fröhlichen Wissenschaft behauptet) – oder eher gesellschaftlich geprägt? Willensstärke kann Frauen männlich und ein Mangel daran Männer weiblich erscheinen lassen – was in beiden Fällen, je nachdem, woran der Wille sich heftet (oder worauf das Entgegenkommen sich einlässt), nicht unbedingt etwas Falsches sein muss. Beim Gegensatzpaar Gemüt und Verstand liegt der Wille auf der erstgenannten Seite. Dass das Gemüt dem Weiblichen und der Verstand dem Männlichen zugeordnet wird, erkennt Nietzsche als Projektion:

Wenn die Männer vor Allem nach einem tiefen, gemütvollen Wesen, die Weiber aber nach einem klugen, geistesgegenwärtigen und glänzenden Wesen bei der Wahl ihres Ehegenossen suchen, so sieht man im Grunde deutlich, wie der Mann nach dem idealisierten Manne, das Weib nach dem idealisierten Weibe sucht, also nicht nach Ergänzung, sondern nach Vollendung der eigenen Vorzüge.

27. Mai 2011 von Kai Yves Linden
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