Literatur

Gesunde Ungesundheit

Sontag Es gibt kein Essay von Susan Sontag, der großen amerikanischen femme de lettres, das ich gelesen habe, das mir nicht auch in der Bestätigung meiner eigenen Gedanken ergänzende Hinweise oder an sich wertvolle Denkanstöße gegeben hätte. Etwa in der ausgedehnten Einleitung einer Besprechung eines Essay-Bandes von Simone Weil, 1963, in der sie ihre Gedanken zum zeitgenössischen Geschmack an Extremen in Kunst und Denken ausführt.

Was den reifen Goethe gegen die Arbeitsproben des jungen Kleist aufbrachte […] – das Morbide, das Hysterische, der Sinn für das Ungesunde, die Hingabe am Leiden – ist eben das was wir heute an ihnen schätzen. Heute bereitet Kleist Vergnügen, Goethe ist für manchen Pflicht. In gleicher Weise erhalten Schriftsteller wie Kierkegaard, Nietzsche, Dostojewski, Kafka, Baudelaire, Rimbaud, Genet — und Simone Weil — ihre Autorität für uns durch ihre Aura von Ungesundheit. Ihre Ungesundheit (unhealthiness) ist ihre Gesundheit (soundness), und das, was Überzeugung herstellt.

Sontag stellt klar, dass sie nicht daran zweifele, dass die gesunde Sicht der Welt die wahre sei. Aber sie fragt, ob Wahrheit immer das sei, was gewünscht ist.

Eine Idee, die eine Verzerrung ist, kann mehr intellektuelle Schubkraft als die Wahrheit haben; sie kann den Bedürfnissen des Geistes, die sich ändern, mehr dienen. Die Wahrheit ist Ausgewogenheit (balance), aber das Gegenteil der Wahrheit, was Unausgewogenheit (unbalance) ist, muss keine Lüge sein.

Unser Zeitalter strebe bewusst nach Gesundheit (im Sinne körperlicher Gesundheit, sowie von Vernunft und Ausgewogenheit) und glaube zugleich nur an die Realität der Krankheit. Jede unserer Wahrheiten müsse einen Märtyrer haben.

Die Eiferer, die Hysteriker, die Selbstzerstörer – diese Schriftsteller sind diejenigen, die Zeugenschaft in unsere furchtsame, artige Zeit tragen.

[…]

Wir lesen Schriftsteller von solch schmerzhafter Originalität wegen ihrer persönlichen Autorität, als Beispiel ihrer Ernsthaftigkeit, wegen ihrer offenbarten Bereitschaft, sich selbst für ihre Wahrheiten zu opfern, und nur bruchstückhaft für ihre Ansichten. So wie der korrupte Alkibiades Sokrates folgte, unfähig und unwillig sein eigenes Leben zu ändern, aber bewegt, bereichert und voller Liebe; so erweist der einfühlsame moderne Leser einem Grad geistiger Wirklichkeit Hochachtung, der nicht seiner ist, und es nicht sein kann.

1. Juli 2011 von Kai Yves Linden
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