Literatur

Erlesene Leiche

Cadavre exquis ist ein Spiel, das sich Marcel Duhamel, Jacques Prévert und Yves Tanguy, die zu dieser Zeit zusammen in einem Haus im Montparnasse in Paris wohnten, um 1925 ausgedacht hatten und mit Freunden zunächst nur zum Zeitvertreib und später auch als experimentellen Ideengenerator spielten. Der Dictionnaire abrégé du Surréalisme (Kurzlexikon des Surrealismus) von André Breton und Paul Éluard (erschienen 1938) beschreibt es als

Spiel, das darin besteht, dass mehrere Personen einen Satz oder eine Zeichnung zusammenstellen, ohne dass diese andere oder vorhergegangene Beiträge berücksichtigen können.

Bewerkstelligt wird dies etwa mit einem Blatt Papier, das stets so gefaltetet wird, dass die vorigen Beiträge verdeckt werden, und das erst entfaltet wird, nachdem alle Personen ihren Beitrag beigesteuert haben. Auf diese Weise wurde auch jener Satz erstellt, dessen Anfang dem Spiel seinen Namen gab: Le cadavre exquis boira le vin nouveau. (Die erlesene [vorzügliche] Leiche wird den neuen Wein trinken.)

Ein Aspekt des Spiels besteht darin, das Bewusstsein zu überlisten und mit seinem Antrieb zu spielen, Zusammenhang und Bedeutung herzustellen. Das von den Surrealisten ausgewählte Wortgefüge spielt auch mit der Einbeziehung eines Bedeutungsfeldes, das problematisch, weil mit Angst und Tabu behaftet ist.

Eher harmlos erscheint der ebenfalls berühmte Nonsense-Satz von Noam Chomsky (aus Syntactic Structures, 1957): Colorless green ideas sleep furiously. (Farblose grüne Ideen schlafen rasend.) Eigentlich als Beispiel für einen Satz formuliert, der semantisch unsinnig, doch syntaktisch korrekt ist (though nonsensical, is grammatical), wurde er schon Gegenstand von Wettbewerben etwa für die beste Paraphrase oder die beste Einbettung in einen sinnstiftenden Kontext. Chomsky stellt durch Verbindung von sich ausschließenden Eigenschaften und Tätigkeiten Paradoxa her. Polysemie (Mehrdeutigkeit) lässt es zu diese Gegensätze aufzulösen. Es erscheint uns durchaus nicht unmöglich, dass Ideen ausdruckslos, fade („farblos”), wie auch neu und unausgereift („grün”) seien, zudem noch nicht ausgesprochen, noch verborgen (dass sie also „schlafen”), aber dies auf sich ständig verändernde, kein Festhalten zulassende Weise („rasend”). Ein Alptraum von Ideen also. Chomskys Nonsense-Satz bietet sich demnach ebenso als Beispiel dafür an, wie unser Bewusstsein versucht einen solchen Zustand zu vermeiden. Wir sind zum Sinn verdammt.

Das Spiel der Surrealisten ist interessant (und bleibt unterhaltsam), einerseits weil das, was anscheinend zufällig zusammenkommt, wegen der Personen, die zusammenkommen, wegen des Einflusses etwa ihrer Gespräche vor dem Spiel, nie ganz zufällig ist, andererseits weil ein unerwarteter Zusammenhang entsteht, sei es nur einer der Aufeinanderfolge oder des Nebeneinanderstehens, aus dem Neues entstehen kann. So wundert es nicht, dass das Spiel auch auf bewegte Medien wie Film und Video übertragen wurde (z.B. durch das Projekt cadavre exquis vidéo). Eine musikalische Zusammenarbeit, welche die Definition des Dictionnaire abrégé du Surréalisme erfüllt, ist mir nicht bekannt, aber denkbar, etwa Komposition auf gefaltetem Papier oder abwechselnde Eingaben an einem Sequenzer.

19. Juli 2011 von Kai Yves Linden
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