Musik

Ambivalenz von Nähe und Ferne

Der Dualismus von horizontaler (melodischer) Nachbarschaft und vertikaler (harmonischer) Verwandtschaft ist konstitutiv für alle tonale Musik. Beim späten Beethoven und bei Schubert finden sich Beispiele, die diesen Dualismus auf den Punkt bringen. Modulationen von einer Tonart zu einer anderen spielen mit der Vieldeutigkeit der temperierten Stimmung, in der zwölf Frequenzklassen für ein Vielfaches an Tonhöhenklassen stehen. In Modulationen zwischen tonräumlich benachbarten und harmonisch entfernten Tonarten wird die tonale Logik der Fortschreitungen mitunter bis in ihre systemimmanenten Widersprüche hinein ausgespielt. Bei Schubert gibt es Stellen, in denen die Klänge, die auf dem Weg zwischen den Tonarten in der Balance zwischen gemeinsamen und fremden Tönen entstehen, eine Qualität gewinnen, in der sie kaum noch funktional deutbar sind, sondern einfach Klang sind.

Beim Spielen des letzten von Schuberts sechs Moments musicaux op. 94 mit der Tempobezeichnung Allegretto kam mir die Idee, es könnte interessant sein, die Akkordfolgen als Überlagerung verschiedener natürlicher Stimmungen zu interpretieren. Eine solche Interpretation wäre eine klingende harmonische Analyse – im Sinne einer Zerlegung, sozusagen eine dis-harmonische Auffächerung der enharmonischen Umdeutungen. Da die enharmonisch verwechselten Töne nur in einer temperierten Stimmung equivalent sind, könnte ein solches Verfahren auch Detemperierung genannt werden. Zu beachten wäre dabei allerdings auch, dass Auslassungen und nicht klingende Töne relevant sein können.

Der Hauptteil des Stückes schwankt zwischen den Tonarten As-dur und E-dur. (Der Mittelteil, als Trio bezeichnet, steht in einem ziemlich klaren Des-dur. Solche Momente, in denen die Musik in einer Tonart verharrt, die es auch beim späten Beethoven gibt, erscheinen in ihrer bewussten Einfachheit nostalgisch.) Die folgenden fünf Takte 39-43 modulieren von E-dur nach As-dur.

Schubert Allegretto

In T.40, bei dem die Tonartvorzeichnung wieder nach As-dur geändert wird, wird der E-dur-Dreiklang des vorigen Taktes als Fes-dur aufgegriffen. Im nächsten Takt wandert die Altstimme des vierstimmigen Satzes vom fes, ein es als Durchgangston berührend, zu einem d. Harmonisch betrachtet wird dem Ohr, vom vorhergegangenen Klang ausgehend, die Aufschichtung einer kleinen Septime nahegelegt (d auf e bzw. eses auf fes). Die auf der Quinte ces liegende tiefere Mittelstimme fällt, gewissermaßen als Schatten der melodischen Bewegung im Alt, zum benachbarten Dreiklangston as. Die Quinte fehlt dadurch im Septakkord am Ende des Taktes – das Ohr ist aus der Erinnerung heraus jedoch geneigt, sie zu ergänzen. Die Notation allerdings suggeriert im Widerspruch dazu einen hartverminderten Septakkord, dem der Grundton b fehlt. Dieser wird zusammen mit der Auflösung des Leitton gewordenen d zum es im Quartvorhaltsakkord des darauffolgenden Taktes nachgeliefert. (Ein antizipierter Vorhalt ist Kernmotiv des Hauptteils des Moment musical.)

Der Quartvorhalt wird am Anfang des letzten Takt des Beispiels erwartungsgemäß in die Terz des Es-dur-Dreiklangs aufgelöst. Die beiden Dreiklänge liegen unmittelbar nebeneinander (und sind parallel gesetzt), stellen aber die harmonisch weitestmögliche Entfernung dar. Ihre funktionale Rolle in der jeweiligen Tonart ist ebenfalls entgegengesetzt: Der E-dur-Dreiklang ist Tonika, der Es-dur-Dreiklang Dominante. Diese letztere ist als solche in T.43 noch nicht eindeutig etabliert und auch die Tonika wird zunächst nur im Durchgang am Ende des Taktes melodisch angedeutet. Die Stabilisierung des Modulationsziels As-dur erfolgt erst im Lauf der Takte, die an das Notenbeispiel anschließen.

Versuchen wir nun einmal, jenen dominantischen Klang, dessen Mehrdeutigkeit die Modulation von E-dur (Fes-dur) nach As-dur ermöglicht, zu „detemperieren“. Die Tonartenkonstellation des Stücks legt nahe, als gemeinsame Achse des Stimmungssystems as/gis anzunehmen, woraus sich bei der Ableitung über reine Quinten und natürliche große Terzen für die in Frage kommenden Grundtöne e/fes und b ein Schwingungsverhältnis von 32:45 ergibt. Der Ton b ergibt sich aus der Umdeutung der Dominantisierung des E-dur-Klangs als Doppeldominante in As-dur, ist im Klang aber nicht präsent. (Mit einem präsenten b würde ein sogenannter dur- oder hart-verminderter Septakkord entstehen, der bei Schubert öfter vorkommt, hier aber nur angedeutet wird.)

Aus der Tonartenkonstellation ergibt sich, dass das Komma zwischen dem as als Terz auf fes und dem as als Septime auf dem gedachten b 64:63 beträgt (ca. 27 C) und das zwischen dem d als Septime auf e und dem d als Terz auf b 225:224 (ca. 8 C). Aber was ist die „natürliche“ Entsprechung einer verminderten Quinte (b auf e bzw. fes auf b)? Sie als 11. Teilton aufzufassen erscheint etwas gewagt. Wir finden hier aber auch die von uns gesetzte Beziehung zwischen den alternativen Grundtönen wieder. Dann wäre e/fes in beiden Interpretationen der gleiche Ton.

Die Schwebungen der „detemperierten“ Töne würden die innere Vieldeutigkeit nach außen stülpen und hörbar machen. Das Denkspiel verdeutlicht aber vor allem, dass Schuberts Musik ohne temperierte Stimmung eine andere wäre. Der Komponist hätte ohne diese andere Mittel finden müssen, um eine Semantik von Nähe und Ferne herzustellen.

11. April 2014 von Kai Yves Linden
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