Literatur

Das Leben lügt nicht

An manchen Tagen höre und lese ich so viele schlechte Nachrichten aus der Welt, von Menschen, die unter Ungerechtigkeit und Willkür leiden müssen, dass am Ende fast nur noch Zweifel übrig bleibt. Unter denen, die verfolgt, gequält und eingesperrt werden, auch heute, auch in Europa, sind Dichter und Dichterinnen. Stellvertretend für so viele von ihnen zitiere ich hier die Zeilen eines Gedichtes von İlhan Sami Çomak, einem kurdisch-türkischen Dichter, in meiner eigenen Nachübersetzung einer Übersetzung von Caroline Stockford ins Englische.[1] Gedichte sind ein Mittel, uns zweifeln zu lassen, aber nicht verzweifeln. Çomak, 1973 in der ostanatolischen Provinz Bingöl geboren, wurde 1994 unter dem Vorwurf verhaftet einen Waldbrand gelegt zu haben, was er unter Folter gestand, später aber widerrief, und wird seither, also seit fast 27 Jahren, an wechselnden Orten in der Türkei gefangen gehalten.

Das Leben lügt nicht

Ich bin zwischen Mond und Flut.
Zwischen Flüstern und Schrei.
Als Kind hatte ich noch die Handschrift eines Kindes,
ich war Geisel des granatapfelnen Lächelns meiner Mutter.
Wenn ich aus dem Fenster in das volle Licht des Gartens blickte,
die Philosophie von Händen schauend, die Früchte vom Baum pflücken,
in jenen Zeiten, als wir noch die Laute der Frösche hörten,
als Frauen durch mein Leben gingen, war der See blau
und ich kannte den Wert des Blaus.
Ich verstehe Schmerz, desgleichen, auf den Stufen des Lebens.

Am Tag meiner Geburt stieg der Wind auf um zu mir zu kommen,
setzte sich beständig wie Tau, als das Gras meine Füße grüßte
und erwachsene Feuer zahlreich wuchsen in meinem Körper,
wo, wie Tauben, meine Gefühle dem Rauschen von Flügeln glichen.
Im Kleid des Frühlings höre ich den Klang der Reinigung.
Ich höre Fußschritte von Ebenen, Bergen, das Gesetz der Schneeschmelze.
Erde zeugt Dampf in meinem Gedächtnis, Frucht reift.
Das Gewicht von Stein lässt Gebräuche leicht werden, fließen
und ‒ wenn man es wünscht ‒ zittern.

An meinem Ort zwischen Ungemach und Wohlsein
höre ich das Lied vom Glücklichsein aus der Welt,
in der Wohlwollen blüht.
Das Leben lügt nicht! sage ich,
es lügt nicht.

(İlhan Sami Çomak)

1. Die englische Übersetzung des Gedichtes wurde vor einem Jahr auf der Çomak gewidmeten Web-Seite ilhancomak.com veröffentlicht (Life does not lie), die momentan leider offline ist.

5. Juli 2021 von Kai Yves Linden
Kategorien: Literatur | Schlagwörter: , , | Kommentare deaktiviert für Das Leben lügt nicht