Musik

Raumstruktur

Helmut Lachenmanns Musik mit Bildern Das Mädchen mit den Schwefelhölzern ist eine Abhandlung über Kälte entlang des Märchens von Hans Christian Andersen, mit eingeschobenen Textfragmenten von Leonardo da Vinci, Notizen von einer Wanderung an einer sturmumtosten Felsenküste über die Gleichzeitigkeit entgegengesetzter Gefühle im Angesicht einer Höhle, und der Terroristin Gudrun Ensslin, „eine extrem verformte Variante“ des Mädchens, bei der sich Kälte in der eigenen Verhärtung der Sprache manifestiert.

Für die Inszenierung bei der Ruhrtriennale ist ihr Intendant Heiner Goebbels auf die Idee gekommen, mit Robert Wilson einen Künstler ins Spiel zu bringen, dessen große Räume bevorzugende, auch Plakatives nicht scheuende Theatermagie einem im Zusammenhang mit der höchst differenzierten Klangkunst Lachenmanns nicht unmittelbar einfällt. Aber Regisseur und Komponist ist es gelungen, die unterschiedlichen künstlerischen Ansätzen zu einer fruchtbaren Dualität zusammenzuführen.

Wilsons abstrahierenden und pointierenden Bilder zur Musik, die sich in transzendierendem Nuancenreichtum bildhaft um das Zittern des frierenden Mädchens, das Warmhalten des erstarrenden Körpers durch Reiben und Tätscheln, das Streichen der Schwefelhölzer, das Funkeln der Flamme, dem Ausgesetztsein im kalten Außen und dem Verschlossensein warmen Innenraums dreht, sind von fast lakonischer Sparsamkeit und Einfachheit und werden von den beiden Protagonisten im Bühnenviereck ‒ neben Wilson als personifizierter Kälte eine körperlich gespannte und präsente Angela Winkler als Theater-Mädchen im weißen Hängerkleidchen ‒ so zeitlupenhaft dargestellt, dass der größte Teil der Aufmerksamkeit sich der Musik zuwenden kann.

Chor und Orchester sind auf Galerien an drei Seiten eines Auditoriums verteilt, dessen Zuschauerreihen steil zu einer quadratischen Arena abfallen. Auch die Solisten, darunter die beiden Sängerinnen, wurden von der Bühne verbannt. Nur die Shô-Spielerin Mayumi Miyata erscheint gegen Ende auf einer Empore sitzend auf der Bühne. Sie wird als klangerzeugendes Individuum vom Orchester, das die japanische Mundorgel zu einer Super-Shô vergrößert, klanglich eingehüllt. Diese Klangwärme wirkt wie ein Aufbegehren gegen das Ausdünnen der Musik, die in kalter Leere zu erstarren droht. Durch die räumliche Verteilung der akustisch Mitwirkenden wird der Klang aufgefächert, manchmal jedoch auch mit Brüchen, etwa wenn durch den Übergang zwischen zwei Galerien eine Folge von überlappenden Ablösungen zwischen Schlaginstrumenten in ein Echo umschlägt, das unmotiviert wirkt. Jedoch erhalten die Klangstrukturen und besonders der (von Lachenmann so genannte) Strukturklang durch die Verteilung der Klangerzeugungsorte eine zusätzliche sinnliche Dimension, gewissermaßen klingende Raumstruktur und Strukturraumklang.

Anrührend, wenn Angela Winklers Mädchen aus seiner stummen Einsamkeit ausbricht, um den Leonardo-Text vorzutragen, nach und nach zu jeder der vier Zuschauertribünen gewandt, die Phoneme schmeckend, mit einem Ausdruck, der nur aus schauspielerischer Versenkung in das Darzustellende möglich ist (was ein grundsätzlich Anderes als musikalische Gestaltung ist). Schlicht betörend die beiden Soprane Hulkar Sabirova und Yuko Kakuta. Und phantastisch selbstverständlich zuhause in allen Spieltechniken ChorWerk Ruhr und hr-Sinfonieorchester, unter der (mit Hilfe von Monitoren) über allen Himmelsrichtungen stehenden Leitung von Emilio Pomàrico. Und eine Freude, gewissermaßen das hoffnungsvolle Gegenstück zur dargestellten Kälte, Lachenmann glücklich lächelnd und heiter zugewandt inmitten der Mitwirkenden den Applaus entgegennehmen zu sehen.

22. September 2013 von Kai Yves Linden
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