Musik

Das Ende aller Zeit

Weiße Rosen, tongetrennt Vor ein paar Wochen stolperte ich beim Aufräumen meiner privaten Archive über eine Instrumentierung des Præludiums Nr. 10 e-Moll aus dem ersten Band von Bachs Wohltemperierten Klavier, die ich 2000 für eine GM-kompatible Synthesizer-Disposition angefertigt hatte. Damals hatte ich zu meiner Bearbeitung notiert:

Mir gefällt an diesem Stück von Bach besonders die ein- und ausfedernde Bewegung von einem harmonisch-melodischen Punkt zu einem anderen. Die formale Asymmetrie des Præludiums deutet vielleicht an, dass die Bewegung gewissermaßen nur in eine Richtung zielt. Dies habe ich durch gelegentlichen Druck auf die Stimmung der flötenartigen Solostimmen zu unterstreichen versucht.

Jetzt reizte es mich, diesen „Druck“ durch Klangtechniken zu verstärken, die ich mir durch zwischenzeitliche Erfahrungen mit Analyse und Resynthese von Klängen aneignen konnte. Die Verzerrungen der Farben der virtuellen Instrumente führten mich dabei in eine Atmosphäre, die ich für mich selbstironisch mit dem Arbeitstitel “End of All Time Version” umschrieb. Samples von einem Horn mit metallischem Tonansatz (cuivré), mit denen ich die Basstöne verdoppelte, unterstreichen dieses Assoziationsfeld. Varianten davon, bei denen die Blastöne durch modulierte Melodiefragmente echoartig zerstreut werden, erinnern an Triviales, etwa Düsteres dräuende Filmmusik ‒ aber wäre eine apokalyptische Vision heute ohne solche Vorbilder denkbar?

Es wäre ein Missverständnis, diese Elaboration ‒ wie ich nach dem Vorbild von Salvatore Sciarrino eine Bearbeitung nenne, die über ein einfaches Arrangement hinausgeht, indem sie Analytisches auslegt, potentiell Angelegtes entfaltet und auch Subjektives einfließen lässt ‒ als Versuch einer Modernisierung zu verstehen. Nur die Interpretation als zeitbedingtes Verständnis von Bachs Musik kann altern, die Substanz seiner Musik bleibt immer so frisch wie am Tag, als die Tinte auf dem Manuskript trocknete. Die subtile Mehrdeutigkeit jeder einzelnen Note der Sechzehntelbewegung, die den Fluss des Ganzen garantiert, ist allein schon Werk eines Meisters. Sie erfasst am besten, wer die Noten in die Hand nimmt. Sie liegt in meiner Bearbeitung im Hintergrund und wird dabei zwischen linkem und rechtem Stereokanal hin und her geschaukelt.

Sicher ist eine Elaboration, die etwas assoziiert, das nicht unmittelbar in der Faktur des Originals liegt, eine Projektion. Ihre ästhetischen Prämissen sind Jahrhunderte von dem entfernt, was Bach sich vorstellen konnte. Ist eine solche Projektion legitim? Ich denke, ja, denn es handelt sich hierbei weniger um eine Projektion im Sinne einer Übertragung als vielmehr um eine spiegelnde Abbildung, bei der Bachs Musik in ein zeitgenössisches Klangbild – als Emanation des Wahren und Schönen (die ebenso Leid und Leidenschaft kennt und ausdrückt und dem Hörer deshalb die Möglichkeit gibt sich wiederzufinden) – hineinscheint.

Während der Arbeit an meiner zweiten Verdauung des Bachschen Textes, wie man die neue Version auch nennen könnte, starb meine Mutter. Die Fortsetzung der Arbeit wurde für mich zu einer Möglichkeit ihren Tod und das zu verarbeiten, was ich vom Leid ihrer letzten Tage in mir nachvollzogen hatte. Um dem Bild ihrer Persönlichkeit näher zu kommen, habe ich die Grundfärbung der Melodieschicht, die in einer Zwischenversion noch tendenziell in heißes Violett aufbrannte, in Richtung eines rosa unterlaufenen Rosenweiß abgetönt, und die pathetischen/pathologischen Verzerrungen auf wenige entscheidende Momente zurückgenommen. Somit ist diese Bearbeitung dem Andenken an meine Mutter gewidmet.

Als Rückkehr ins Leben – oder Erinnerung an ein vergangenes – habe ich diesmal noch die vor 19 Jahren ausgelassene Fuge hinzugefügt. Das Klangmaterial der Instrumentierung besteht aus reinen, unmodulierten Samples von Key Clicks, Slaps, Luft-Pizzicati und ähnlichen Spieltechniken von Bläsern – die bereits den Presto-Teil des Præludiums als klangliches Kerngehäuse bestimmten – sowie Gitarrenanschlägen und einzelnen weiteren Klangfarben. Die durchlaufende Sechzehntelbewegung habe ich mit Accelerandi und Rallentandi verbogen. Es ist eine unmögliche, weil unspielbare Musik, die nur mit Samples realisiert werden kann. Ich glaube, es hätte meiner Mutter gefallen, in dem quirligen Getapse wie von Mäusepfoten eine Metapher auf uns Menschen zu sehen, die sich gelegentlich durch ein kleines, aber feines Geräusch in einer großen, weiten Welt bemerkbar machen.

Zur Seite zum Abspielen der Klangdatei: Præludium et Fuga.

15. Juni 2019 von Kai Yves Linden
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