Fotografie

Drei Fotos

Für die Hintergrundebene des Videos zu Liberté (veröffentlicht auf Vimeo, 4 Minuten) habe ich drei Fotos ausgewählt, die als gemeinsames Grundmotiv die Straße haben. (Hauptschicht der Audio/Video-Komposition – durchaus wörtlich im Sinne von Zusammensetzung zu verstehen – ist die elektroakustisch multiplizierte und transformierte Stimme von Paul Éluard.) Die Hintergundebene, auf der die Fotos nacheinander liegen, wird von einer schwarzen Ebene verdeckt, eine Leinwand bzw. ein Volet, die durch Wörter und Buchstaben aus dem Gedicht durchbrochen wird. Die Sprachzeichen wandern auf dem schwarzen Volet, parametrisch gesteuert durch die Rezitation oder andere Klangschichten und teilweise kaleidoskopisch vervielfältigt. Die „Lesung“ der Fotos führt die Metapher des «écrire sur» („auf etwas schreiben“) weiter und verzahnt die Bildspur mit der Tonspur.

Das erste Bild zeigt den fünfzigjährigen Paul Éluard, der aus dem Fenster seiner Wohnung auf die Rue de la Chapelle blickt. Es wurde vermutlich 1944 nach der Befreiung von Paris aufgenommen. Die Rue de la Chapelle durchzieht das gleichnamige Viertel im 18. Arrondissement parallel zu den Bahngleisen, die an der Gare du Nord enden. (Der Teil, in dem das Haus Nr. 35 liegt, in dessen zweitem Stock Nusch und Paul Éluard 1940 eine Wohnung bezogen, ist heute nach dem sozialistischen Politiker Marx Dormoy benannt.) Das Foto wurde offensichtlich aus einem benachbarten Fenster geschossen. Diese Idee und die Bildkomposition, die der Straße unter den Fenstern mehr als die Hälfte des Bildes zukommen lässt, verrät einen großen Fotografen oder eine große Fotografin (leider fehlt mir ein Nachweis, wer).

Paul Éluard à la fenêtre de son appartement à Paris

Beim zweiten Bild ist belegt, dass der Fotograf Man Ray ist. Einen großen Teil des Bildes nimmt eine Renault Nerva ein (eine voiture sport der späten 30er Jahre des 20. Jahrhunderts). Wenn auch bekannt ist, dass Man Ray eine Schwäche für sportliche Autos hatte, sehe ich das abgestellte Fahrzeug hier eher als Zeichen des Aufenthalts. Es wäre kein Foto von Man Ray, wenn das Symbol nicht zugleich auch um seiner selbst willen da wäre. Aber der unbestrittene Gegenstand des Bildes ist die elegant gekleidete Frau, die ihrerseits durch eine Kamera blickt. Es ist Nusch, die ursprüngliche Adressatin des Gedichtes, die geliebte Frau ‒ das dann zu einer Ode an die Freiheit wurde.

Grundsätzlich finde ich, nebenbei, Fotos von fotografierenden Menschen faszinierend. Der abgebildete Blick durch die Kamera deutet auf den Akt des Fotografierens, dessen Ergebnis das betrachtete Foto ist, welches durch einen anderen, den eigenen Blick rezipiert wird. Da die Fotografin, die abgelichtet wird, uns den Rücken zuwendet (genau genommen die linke Schulter), verlängert sie den Blick des Fotografen, den wir als Betrachter nachvollziehen. Die Haltung der Arme zeigt übrigens, dass sie sich mit dem stabilen Stand beim Fotografieren auskennt (s. meinen Artikel zur fotografischen Praxis).

Das Auto stammt etwa aus der gleichen Zeit wie jenes, das letztens in Paris an mir vorbeirauschte (Reise in die Vergangenheit). Nusch und Man Ray waren irgendwo zwischen Cannes und Mougins unterwegs, wo 1937 einige der bekanntesten Künstler des 20. Jahrhunderts zusammen ihre Ferien verbrachten.

Man Ray: Arrêt pour prendre des photos

Das dritte Bild zeigt den Boulevard des Capucines, unweit des Palais Garnier, der alten Oper. Die Nummernschilder an den Fahrrädern befolgen noch die 1940 von der Präfektur auferlegte Zulassungspflicht für alle Zweiräder, während der Soldat in bequemer Uniform und die Fahnen der westlichen Alliierten am Grand Hotel darauf hinweisen, dass die Kapitulation der deutschen Stadtbesatzung schon mindestens einige Wochen vor der Aufnahme stattgefunden hat.

Im Erdgeschoss des Hotels befindet sich das Café de la Paix. Der Preis der Kanne Tee, die ich hier dreißig Jahre nach der Aufnahme des Fotos als Vierzehnjähriger bestellte, verursachte eine größere Lücke in meinem bescheidenen Portemonnaie. Immerhin war der Tee gut.

Die Menschen auf dem Foto, Radfahrer und Fußgänger, die sich in verschiedenen Richtungen und Geschwindigkeiten bewegen, drücken eine gelöste Geschäftigkeit aus.

Vélos sur le boulevard des Capucines, après l'août de 1944

(Zum Stück (Audio mit Video)→)
(Zum Text des Gedichtes mit Übersetzung→)
(Extrakt der Arbeitsnotizen→)

29. März 2015 von Kai Yves Linden
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