Philosophie

Lust und Genießen

Angeregt durch Stöbern und Blättern rund um die Nietzsche-Rezeption französischer Philosophen beschäftigen mich zur Zeit die Begriffsgebilde von Jacques Lacan, des Theoretikers der Psychoanalyse, der in den 1950er und 1960er Jahren Freud neu interpretierte und die poststrukturalistische Philosophie beeinflusste. Sie erscheinen mir teilweise schlüssig, teilweise schwer fassbar. Nun bin ich nicht philosophisch gebildet, von Grundkenntnissen abgesehen, also kaum berufen, Lacan kritisch zu betrachten oder nur zu erklären. Aber – die Begriffspaare, -dreiecke, -knoten, welche die Grundlage seiner Theorie bilden, beunruhigen, faszinieren mich – und als Künstler kann ich mir vielleicht erlauben, mich ihnen eher kreativ als wissenschaftlich zu nähern.

Leicht verständlich erscheinen mir noch [le] petit autre und [le] Grand Autre. Das (oder der) große Andere, A, entspricht in etwa dem Freudschen Über-Ich. Das (oder der) kleine andere oder Objekt klein a (objet petit a) geht über Freud hinaus, denn es hat zwar mit dem abstrakteren Es zu tun, ist aber nicht dieses, vielmehr darauf bezogen: Es steht für das Objekt des Begehrens (objet du désir), das unerreichbar ist. Das Subjekt, das auf dem Grund des Freudschen Ich steht, den abstrakteren Begriff gewissermaßen als handelnde Person auf einer Theaterbühne konkretisiert, ist Träger eines unbeseitigbaren Mangels, der aus dem Austritt aus der Gebärmutter und dem Verlust der Mutterbrust folgt. (Welche Verschiebung entsteht für Menschen, die mit der Flasche gesäugt wurden?) Das Begehren ist metonymisch, es kann von einem Objekt zu einem anderen wandern. Dem Begehren aus der Sphäre des kleinen anderen steht Lust ([le] plaisir) als Prinzip des großen Anderen gegenüber: Sie spielt mit dem Verbot, sie erhält sich durch Beherrschung und Enthaltung. Das Genießen (jouissance) will die vom Verbot gezogene Grenze überschreiten, das Begehren endgültig erfüllen. Es ist doppelt schmerzhaft, weil es einerseits das Objekt des Begehrens verfehlt – es muss den wahren Mangel, der ja unbeseitigbar ist, durch einen anderen ersetzen – und andererseits ohnehin nicht dauerhaft oder in Vollendung erfüllt werden kann – denn dies würde den Tod des Subjekts und des Genießens bedeuten. Das Genießen ist also paradox; Lacan bezeichnet es als „idiotisch” – vielleicht wegen des triebhaften Gebahrens, das ihm eigen ist. Es steht im Zusammenhang mit dem Freudschen Todestrieb und im Gegensatz zum Selbsterhaltungstrieb, der durch die Libido geprägt wird – im Spannungsfeld von Eros und Thanatos also von ersterem zu letzterem strebend.

Aber wie gesagt: Ich gebe hier mein eigenes Verständnis von Lacans Begrifflichkeit wieder, das zudem keineswegs abgeschlossen ist: Eben glaubte ich etwa den Unterschied von Lust und Begehren noch greifen zu können, im nächsten Moment entzieht er sich mir wieder. Was das Genießen – jouissance – angeht, ist es wohl nicht mit Genuss gleichzusetzen, sondern hat als Element der Terminologie lacanienne eine engere Bedeutung. Ist es möglich, das Begriffsdreieck aus dem Zusammenhang des Systems (außer Acht gelassen habe ich hier vor allem réel symbolique imaginaire, RSI – das Reale, das Symbolische, das Imaginäre) herauszulösen? Die Frage ist für mich, ob einzelne Modelle aus dem System als Steine herausgebrochen werden können, ohne darin wie in einem „großen Anderen” gefangen – vom Lacanschen System eingenommen zu werden. Vielleicht ist das System offen genug.

Gewissermaßen als Seitenbemerkung, als assoziativer Kommentar fallen mir noch die Verse aus Nietzsches Zarathustra ein (wie sie Gustav Mahler in seiner dritten Sinfonie vertonte, ohne das zwischen die Verse eingeworfene Zählen der zwölf Glockenschläge). (Die Bedeutung von Lust ist hier unbestimmter als bei Lacan.)

Oh Mensch! Gieb Acht!
Was spricht die tiefe Mitternacht?
„Ich schlief, ich schlief -,
Aus tiefem Traum bin ich erwacht: –
Die Welt ist tief,
Und tiefer als der Tag gedacht.
Tief ist ihr Weh -,
Lust – tiefer noch als Herzeleid:
Weh spricht: Vergeh!
Doch alle Lust will Ewigkeit -,
– will tiefe, tiefe Ewigkeit!”

7. Juni 2011 von Kai Yves Linden
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