Literatur
Materielle Extase
Im Sommer habe ich bei einem Büchertrödel eine Originalausgabe von 1967 des Essays L’Extase matérielle von J. M. G. Le Clézio erstanden, ein ausgemustertes Bibliotheksexemplar.[1] Ich glaube an die Magie von Zufallsfunden, und tatsächlich hat das Buch mich in seinen Bann gezogen. Nicht, dass ich es verschlungen hätte. (Ich bevorzuge eher kurze Lesestrecken, wechsele auch schon mal zwischen Büchern hin und her, nur selten nimmt mich die Fabulierkunst eines Autors so ein, dass ich süchtig nach dem Fortgang des Werkes werde.) Aber je weiter ich im Buch kam, je mehr habe ich mich in es verliebt.
Das Essay von Le Clézio ist eine Art Selbstgespräch, eine Überprüfung von Gelerntem und Angenommenem über sich und die Anderen, über das Dasein und die Welt, eine Gegenüberstellung von Begrifflichkeit und Wirklichkeit, von Wissen und Gegenwart, von Verstand und Gefühl. „Die Schönheit des Lebens, die Energie des Lebens liegen nicht im Geist, sondern in der Materie.“ Der Autor spricht zu sich über sich, über sein Zimmer, die Welt vor dem Fenster, in einer Ecke im Garten, über die Frau, ihren Körper, über Liebe, über Nähe und Fremdheit, über das Schreiben, über das Sein, über das Nichts, über den Kosmos, über die schwindelerregende Überfülle des Materiellen. Es ist eine Selbstrede, eine Betrachtung im Spiegel über die Erfahrung des in seiner Gegenwart Wirklichen – das sich selbst genügt – wie auch über seine Abwesenheit, die Leere. Das Denken radikalisiert sich in diesem Essay, in dem es sich emotionalisiert, binäre Modelle und dialektische Entwicklung ins Absurde treibend. „Der Körper ist Leben, der Verstand ist Tod. Die Materie ist Sein, der Intellekt Nichts. Und das absolute Geheimnis des Denkens ist ohne Zweifel jener nie vergessene Wunsch, wieder in die ekstatischste Vereinigung mit der Materie einzutauchen.“[2]
2.↑Das INA stellt einen kurzen Ausschnitt aus einer Lesung von 1967 zur Verfügung: (Audio, 1’12“)