Garten

Sinnbild

Yèvre In Bourges, einst als Avaric Zentrum des gallischen Stamms der Bituriges Cubi, wie der Eroberer Cæsar sie nannte, fließen mehrere Flüsse zusammen, was die Bildung von Sümpfen begünstigt. Für die römischen Legionen waren diese ein gefährliches Hindernis bei der Eroberung der Schlüsselstadt des mittleren Galliens. Zwei Jahrtausende später ist das moorige Gebiet im Osten der Stadt, die Marais de Bourges, gleich nach der Kathedrale seine herausragendste Sehenswürdigkeit (wobei das Herausragen auf die Kathedrale auch wörtlich zu verstehen ist, während es sich bei den Kleingärten, welche die Marais inzwischen sind, natürlich nur auf ihre Einzigartigkeit bezieht). Die Trockenlegung und Bewirtschaftung begann im 17. Jahrhundert. Mit der Enteignung des Klerus durch die revolutionäre Verfassungsversammlung 1789 entstand eine kleinteilige Parzellierung. Heute teilen sich rund 1.000 Eigentümer etwa anderthalb mal soviel Parzellen auf einem Terrain von 150 Hektar, das sich in 27 Teilgebiete (quartiers) gliedert, die unterschiedlich hoch liegen, auf andere Weise trockengelegt wurden, oder durch einen der beiden durchziehenden Flüsse, Langis und Yèvre, der Voiselle oder einer ihrer anderen Nebenarme, dem großen oder einem der kleineren Entwässerungskanäle von den anderen Quartiers getrennt werden. In einigen Quartiers sind die einzelnen Parzellen ganz von Wasser umflossen und nur mit dem Boot zu erreichen. Die Barken werden wegen des niedrigen Wasserstandes mit Staken bewegt. Ein Vergleich mit Venedig ist somit fast unvermeidlich – nur sind die Marais von Bourges, anders als die Serenissima – die dem, der nicht in einen der dort hinter Mauern versteckten Gärten Einlass findet, als ein Meer von schöngeformtem Stein erscheint – grün und grün.

Drei Jahrhunderte lang, bis in das 20. Jahrhundert hinein verdienten sich hier Pächter ihren Lebensunterhalt mit Hanf-, Gemüse- und Obstanbau. Maraîchère und maraîcher von heute suchen Erholung von ihrem Alltag. (Das Wort maraîcher bedeutet Bewohner eines Sumpfgebietes oder, ungeachtet der Art des bearbeiteten Bodens, Gemüsegärtner.) Nebenbei beteiligen sie sich am Schutz eines Landschaftsdenkmals (site classé seit 2003). Durch das allgegenwärtige Wasser stellt sich – nicht nur auf einer ganz vom Wasser eingeschlossenen Parzelle – eine Art Inselgefühl ein. Wer als Weltbewohner eine Insel betritt, muss seinen Umgang mit Raum und Zeit auf einen Mangel an Reichweite und Abwechslung einstellen, der sehr entspannend wirken kann. In diesem Sinne erscheinen mir die Kleingärten der Marais de Bourges als Sinnbild eines Gartens.

25. August 2011 von Kai Yves Linden
Kategorien: Garten | Schlagwörter: | Kommentare deaktiviert für Sinnbild