Musik

Materie

Mit Freunden besuchte ich eine Vorstellung von De Materie in der Kraftzentrale im Landschaftspark Duisburg-Nord. Weil wir uns bei der Anfahrt vom Navigationsgerät in eine falsche Straße hatten führen lassen ‒ die Emscherstraße gibt es in Duisburg zweimal ‒ mussten wir das Einlassfenster für Verspätete wahrnehmen. Dadurch verpassten wir leider den Anfang des Stücks, von dem ich immerhin durch eine Präsentation in Düsseldorf, in der Heiner Goebbels das Programm der diesjährigen Ruhrtriennale vorstellte, übrigens das letzte Jahr seiner Intendanz des Festivals, eine Idee erhalten hatte.

Das Musiktheaterstück in vier Teilen – eigentlich vier Stücke, die ohne Pause aufeinanderfolgen – beginnt mit 144 Akkordschlägen, die wie Pfähle in einer Landschaft die Zeit abstecken. Louis Andriessens Klangfiguren erscheinen als Objekte mit klaren Umrissen, die sich manchmal überlagern oder übereinandergeschichtet werden. In allen Stücken von Andriessen, die ich kenne, haben die von ihm ausgewählten Texte den deklarativen Charakter eines Statements. Brechungen entstehen, wie auch in seiner Musik, durch Gegenüberstellung und Überlagerung von Statements. Die Texte in De Materie gruppieren sich um verschiedene Aspekte des Begriffsfeldes, das der Titel anstößt: Materie als das mit dem Tastsinn Erfahrbare, das Material, das geformt wird, Materie als Stoff im figurativen Sinn, die Materialisierung von Ideen, die Kosmologie des Kleinen und Großen, des Einschließenden und Enthaltenen, der Umriss der Körper, Körper, die sich berühren.

In ihrer Objektivität wirkt Andriessens Musik zunächst kühl, fast kalt, doch die durch Reduktion und repetitive Struktur hergestellte Einfachheit stellt sich dem aufgeschlossenen Hörer bald als Einladung heraus, dem Komponisten auf die Finger zu schauen. Wie beim Klassizismus des 18. Jahrhunderts – nicht im Stil, nur im Konzept – wird der Hörer zum Komplizen, der dann immer wieder durch eine unerwartete Wendung verblüfft wird. Aber Andriessen unterhält nicht nur, er wagt auch Zumutungen, wie die der fast unendlich erscheinenden Dehnung eines minimalistischen Klangprozesses im vierten Teil, in dem sich farblich verändernde Akzente von langen Pausen getrennt werden. In diese ins Unendliche strebende Dehnung werden im Liebesakt empfundene Aufhebung von Zeit – in einem Gedicht von Willem Kloos ausgedrückt – die liebende Trauer von Marie Curie und die Entdeckung des Radiums projiziert. Daran schließt ein lakonischer Schluss unvermittelter Verdichtung an, der die vorhergehende fast statische Leere wieder paradox als Klangrede erscheinen lässt.

Goebbels Inszenierung und Klaus Grünbergs Bühnenbild erschienen mir zuvorderst in der Gegenüberstellung paralleler Flächen kongenial. Diese Mehrflächigkeit wird u.a. durch die Bevorzugung der Seiten des Raums der Kraftzentrale hergestellt, wobei die Bodenebene durch Höhe und Tiefe des Raums gewissermaßen als liegende Fläche erscheint. Die immer wieder den Luftraum darüber durchziehenden Zeppeline unterstreichen dies – durch ihre Fremdheit – noch mehr. Sie haben etwas von Quietschenten in einer Badewanne und könnten dafür stehen, dass eine Synthese im Sinne einer dialektischen Aufhebung nur symbolisch gelingen kann. Die Juxtaposition der für sich flächigen Strukturen bringt allerdings eine weitere Ebene hervor, die schlicht im Nebeneinander oder der Gleichzeitigkeit der Ebenen besteht.

Visuelle (und teilweise auch olfaktorische) Höhepunkte der Inszenierung sind drei Tripelpendel (im dritten Teil ‒ einem Tableau mit Piet Mondriaan als Hauptperson) und hundert Schafe (im vierten Teil). Bezüglich der Schafe haben sich alle in unserer Gruppe nach der Bedeutung gefragt. Bernd Wiesemann erkannte darin das Kreatürliche. Ihr allmähliches Durchziehen des Raums ebenso wie die Trajektorien der Lichtscheiben an den Pendeln haben uns in den Bann gezogen. Verblüffend war bei letzteren, wie die Wirkung der Beziehung der Scheiben zueinander sich veränderte, nachdem die Gelenke durch das Abdunkeln des Umgebungslichtes unsichtbar wurden. Pendel und Schafe deuten für mich auch auf das chaotische Moment, das wir in der Moderne unserer Zeit in jedem noch so festen Körper verborgen wissen.

25. August 2014 von Kai Yves Linden
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